Steht Wissenschaft
nicht nur in abendländischer Tradition? Sind deshalb nicht ihre klassischen
Sprachen Latein und Griechisch? Aber Arabisch?
Arabien! Mit diesem
Wort verbinden wir bestimmte Bilder, böse Bilder. Kein Wunder, denn aus jener
Weltgegend werden wir täglich mit Terror- Tod- und-Teufel-Nachrichten
überschwemmt.
Daneben besteht noch
ein zweites Bild, ein heimliches, eins von mysteriösen Märchenerzählern,
betörenden Düften, bauchtanzenden Haremsdamen... ein Gemälde lüsterner
Sinnlichkeit. Kurz: Unser Arabien-Bild wird auf alles Anstößige, alles
Verächtliche reduziert. Als Wiege der Wissenschaften haben wir jenen Teil des
Globus nie eingeordnet.
Konnten wir auch
nicht, denn als solche kam er in unserer Schulbildung nicht vor. Wer jemals die
Möglichkeit hatte, den Blickwinkel zu ändern, der wird erstaunt festgestellt
haben, dass in der arabischen Welt das Vergangene realer als die Gegenwart ist,
so als läge den Menschen ein von Jahrhunderte langer Erfahrung geprägtes Wissen
im Blut, das ihnen besondere Würde und Gelassenheit schenkt. Unser böses
Arabien-Bild erweist sich also bei genauerem Hinsehen als Verzerrung. Sollten
wir einfach nur unsere Optik ändern?
Es ist auch die Lehre
der Optik, die vom IX. bis XV. Jahrhundert vertieft wurde. Damals bewegten
sich die Gelehrten von Bagdad bis Samarkand, von Granada bis Kairo, von
Damaskus bis nach (Indien) Jaipur, – ihre Sprache war Arabisch.
Den Weg der Strahlen
hatte zwar der berühmteste Mathematiker der Antike, Euklid, 300 v. Chr.
geometrisiert, auch Ptolemäus konnte 150 v. Chr. Strahlen präzise messen, aber
das Licht hatte noch nicht ihre Aufmerksamkeit erweckt. Arabische Mathematiker
wie Ibn Al–Banna, Ibn Al-Haim, Al- Karaji oder Umar Al-Khayyam übersetzten die
antiken Thesen der Optik und erweiterten sie. Al-Kindi und Ibn Al-Haytham, oder
Alhazan, vermuteten, dass Licht eine eigene existentielle Grösse sei. Sie
entdeckten 900 n. Chr. den Brennspiegel als Lichtkörper. Reflexionsgesetze
werden in Ibn Al-Haythams Buch der Optik formuliert: „Sehen entsteht,
wenn Strahlen des Objekts auf ein Auge fallen, sich auf der Netzhaut brechen.
Dort entsteht ein Bild, welches dem des Objekts entspricht,“ notierte er
sorgfältig.
Systematisch hatten
alle arabischen Forscher ihre Erkenntnisse aufgezeichnet und als Enzyklopädien
herausgegeben. Europa profitiert heute noch davon. Constantinus Africanus, dem
Arzt aus Karthago gelang es Ende des 11. Jahrhunderts, eine Anzahl dieser Medizin-Wälzer
nach Sizilien zu bringen. Mit diesem Wissen wurde Salerno (neben Palermo) zur
bedeutendsten medizinischen Fakultät Europas. –
Während es noch im
mittelalterlichen Europa aus religiösen Motiven als ehrenrührig galt, einen
menschlichen Körper zu öffnen, versuchten die arabischen Ärzte schon die ersten
schwierigen Luftröhrenschnitte unter kontrollierter Narkose. Ihre
Zahn-Heilkunde, ihre Therapien von Hautkrankheiten waren um Jahrhunderte dem
europäischen Wissen voraus.
Als erster hatte der
1288 geborene Ägypter Ibn Al-Nahfis, Direktor der Hospitäler von Kairo
und Nasri, ebenso Kommentator der Thesen des Hippokrates, den „Kleinen
Blutkreislauf“ oder „Lungen-Kreislauf“ entdeckt, also den mit Sauerstoff
angereicherten Weg des Blutes, bevor es in den grossen Kreislauf (Siehe Graphik
!) zurück fließt. Dasselbe gelang in Europa erst 1628 dem Engländer William
Harvey.
865 n. Chr. wurde in
Persien Abu Bakr Al-Razi geboren. Er leitete das Hospital von Bagdad. In seinen
280 medizinischen Werken finden wir erste Pocken- und Masern-Diagnosen mit
entsprechenden Therapievorschlägen.
Ein Name wie der des
1037 im zentralasiatischen Buchara geborenen Ibn Sina, auch Avicenna genannt,
ist fast vergessen, obwohl er 450 medizinische Werke verfasste, Aristoteles
übersetzt und kommentiert hatte. Auch der in Cordoba 1126 geborene Ibn Ruschd,
Averroes, schrieb das Al-Kulliyad , das Colliget, das aus den 7 Teilen
Anatomie, Pathologie, Diagnose, Therapie, Hygiene, Ernährung und Diät bestand.
Zu nennen sei noch Abu Imran ibn Maymun, Maimonides, 1135 in Cordoba geboren.
Er lebte bis 1204 in Ägypten, war Leibarzt des Sultans Saladin, gilt als
wichtigster Denker des mittelalterlichen Judentums, schrieb seine medizinischen
und philosophischen Hauptwerke in Arabisch: „Mäßigung in allem“ empfiehlt er
und „Medikamente unterstützen lediglich den Körper, damit er sein Gleichgewicht
wieder erlange“.
In Beziehung zur
Medizin stand die Botanik. Alexander von Humboldt erinnerte: „Die
Apothekerkunst ist von den Arabern geschaffen. Die ersten Vorschriften über
Bereitung der Arzneimittel sind von ihnen ausgegangen und wurden durch die
Schule von Salerno in Europa verbreitet“.
Die Arzneikunde war
im 13. Jahrhundert so umfangreich, dass der Botaniker Ibn Al-Baitar aus Malaga
mehr als 1400 pflanzliche Rezepturen und Drogen anzuwenden wusste. Die
Versorgung der gesamten Bevölkerung war von den Apotheken aus gesichert. In
Europa waren arabische Elixiere nur den reichen Patriziern zugänglich.
Jahrhundertelang
waren Tausende von Karawanen durchs Morgenland geschaukelt, Kamele hoch beladen
mit Heilpflanzen, Gewürzen, Mineralien, Weihrauch und Seide, die sowohl für die
orientalischen Basare als auch für die Märkte des Abendlands bestimmt waren. Die
grossen Handelsstrassen verliefen (Weihrauch- und Seidenstrasse) durch Städte,
deren Namen sagenhafte Schönheit und schimmernde Pracht verhießen.
Über den Handel mit
Europa – der religiöse Zwist rückte in den Hintergrund - war Arabien zu
schriftlichem Rechnen, zur Algebra, sowie zum Wiegen und Messen
gezwungen. Abu Al-Wafa und Al-Kashi dachten erstmals über spezifische Gewichte
nach.
Erste
Präzisionswaagen entstanden im 9. Jahrhundert. Zur gleichen Zeit verfasste auch
der in Usbekistan geborene Mathematiker Muhamed Ibn Musa Al Hworithmi
eine Dezimal-Aufgabensammlung zur Anleitung für Händler und Notare. Nach ihm
wurde der Algorithmus benannt. Europa trennte sich von den Römern übernommener
komplizierter Zählweise im 13. Jahrhundert und ersetzte sie durch arabische
Zahlen..
Eng verbunden mit der
Mathematik war die Astronomie. Erkenntnisse der Astronomen Al-Birmi,
Nasir Al-Din Al-Tusi, Thabis Ibn Qurra, Ibn Yunus, Ibn Al-Shatir dienten der
Astrologie, der Bestimmung der Gebetszeit, (mit Hilfe von Sand- und
Sonnenuhren) der Ausrichtung nach Mekka und der Wahrnehmung des Neumondes.
Wichtig, denn in der moslemischen Welt basiert der Kalender auf Mondphasen. All
jene Wissenschaftler fanden die antiken Thesen des Ptolemäus’ widersprüchlich
und behaupteten schon im 11. Jahrhundert, dass die Erde eine Kugel sei. Ihre
Winkelmesser, Quadranten, Sextanten und das Astrolabium zur Bestimmung des
Standes der Gestirne wurden vom späteren Europa gern übernommen. Sehr früh
wurden Arbeiten über Ebbe und Flut, Morgenröte, Dämmerung, den Regenbogen, den
Mondhof und die Bewegungen von Sonne und Mond verfasst. Deutliche Spuren der
arabischen Astronomie finden wir bei den Sternennamen.
Doch erst Kopernikus
und Galilei war es im XV. Jahrhundert vorbehalten, geozentrisches Denken in
heliozentrisches zu korrigieren.
Im frühen Mittelalter
reisten also die arabischen Gelehrten durch ihre Welt. Sie bedienten sich des
Wissens der Karthographen Al-Balki (920 n. Chr), Al-Istakhri und
Al-Muquddas. Ihr Atlas der islamischen Welt bestand aus 21 Landkarten
und 3 Karten der Meere. Nord und Süd war verdreht, nicht wichtig, denn man
glaubte, allein der moslemische Weltteil, der bis nach China reichte, sei
besiedelt.
Bis ins ferne China
war Ibn Battuta im XIII Jahrhundert vom Maghreb aus über Indien gereist. 29
Jahre war er unterwegs. Eine Rekord-Reise. Er hatte genug Zeit Flora, Fauna
sowie Religionen und Sitten der fernen Länder in seinem Werk Aktuelles
meiner Beobachtungen präzise zu beschreiben. Der berühmteste Reisende
des IX. Jahrhunderts war Sindbad der Seefahrer, der Held aus 1001 Nacht, der
900 n. Chr. von Oman aus seine abenteuerlichen Reisen angetreten haben soll.
Aber die damalige
Welt war nicht nur in Bewegung, sie siedelte auch. Exzellente Zeugnisse ihrer Baukunst
finden sich von Alexandria über Basra bis Samarkand. Bagdad, 762 als Hauptstadt
des abbasidischen Kalifats prächtig ausgebaut, gilt architektonisch als die
ideale Stadt, außerdem als Hochburg der Gelehrsamkeit. Palast und Moschee waren
von mehreren Ringen umgeben. Man begab sich durch vier verschiedene Portale ins
Zentrum. 786 öffnete der mächtige Harun Al Rashid das erste Hospital in
Bagdad. Jede islamische Stadt hatte eins. Ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer
Religion, wurden alle behandelt. Neben der reinen Krankenpflege wurden dort
Ärzte ausgebildet. Hospitäler gewährten Verwundeten wie Genesenden Asyl.
Wahrscheinlich
wandelten sie in den Hospital-Gärten. Der Koran verspricht den Gläubigen den
Garten des Paradieses. Daher mag die Stärke der Araber auf dem Gebiet der Bodenkultivierung
und Landschaftsgestaltung, der Bewässerung, der Einführung von Früchten und
Pflanzen wie Zuckerrohr, Granatapfel, Aprikose und Pfirsich – und der
Kultivierung menschlichen Zusammenlebens – herrühren. Wassertechnik
(Hydraulik) beschäftigte den Orient wie den Okzident gleichermaßen. Die
hängenden Gärten von Babylon gehörten zu den sieben Weltwundern. Die dunkle
Welt des Mittelalter bekam durch Araber eine neue Lebensart.
Dazu gehörten Musik
und Poesie. Gitarre, Mandoline und Laute stammen aus dem
mittelalterlichen Kulturexport. Der über Nordafrika und Spanien nach Frankreich
gelangte Troubadour-Gesang beeinflusste die mittelhochdeutsche Minne. Nicht zu
vergessen seien die orientalischen Märchen mit ihren Feen und Zauberern, die
Eingang in die europäische Literatur fanden.
Als die katholischen
Könige Granada 1492 mit Feuer und Schwert eroberten, die Mongolen hundert Jahre
zuvor Bagdad brutal zerstört hatten, wurde so manche wissenschaftliche
Handschrift vernichtet. Trotzdem hat sich ein beachtlicher Wissens- und
Wortschatz arabischer Herkunft erhalten, der heute als organischer Bestandteil
unserer westlichen Sprachen empfunden wird.
„Lange hatte Europa
an einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber der islamischen Welt gelitten“,
schreibt heute der britische Orientalist W. Montgomery Watt. „Europa konnte
sich nur davon befreien, indem es das Bild des Islams entstellte und zugleich
den arabischen Umweg verleugnete, auf dem es einen großen Teil seines antiken
Erbes empfangen hatte.... Es gehört zu den aufregendsten neueren Erkenntnissen
der westlichen Orientalistik, dass der Anteil des Islam am westlichen
Selbstverständnis weit größer ist, als bisher angenommen“.