Donnerstag, 4. April 2002

Als waers vom Teufel - Koka, kontroverses Blatt


he mir schwarz vor Augen wurde, hatte ich den blauen Himmel über dem Flugplatz von  El Alto bei La Paz gesehen - 4.080 Meter hoch - nicht von jedem Flachland-Passagier zu verkraften.  Mit Sauerstoffmaske im Gesicht und einem Indio-Doktor vor Augen kam ich zu mir -  und dorthin, wohin ich wollte – in die Anden. Freundlich reichte er mir eine Tasse Tee: „Das hilft gegen Höhenkrankheit:  Mate de Coca - Koka-Tee“.  Er bietet mir das an,  was die Lufthansa, als sie noch in La Paz landete,  allen Passagieren servierte – das Standardgetränk, das von Kolumbien über Peru bis Bolivien  bei Unpässlichkeiten aller Art Hilfe verspricht. Jedes Koka-Blatt enthält Proteine, Kohlehydrate, Mineralien und Vitamine -  lebenswichtig für die schlecht ernährten Land- und Minenarbeiter der Anden.  

Schon die Inkas kauten Koka, was die christlichen Konquistadoren  bei ihrer Ankunft in Südamerika als heidnische Handlung,  als „Gespräch mit dem Teufel“ (hablar con el demonio),  verdammten und auf dem Konzil von Lima 1551 untersagten. Jahre später erkannten die spanischen Kolonialherren, dass Koka die Leistung der zwangsrekrutierten Indios in den Gold- und Silberminen erhöhte und der Kokahandel ein lukratives Geschäft war.  Bis heute vertrauen Indios auf  „mama cocas“ sanfte Kraft, was die Weltgesundheitsorganisation WHO (World Health Organization) bestätigt: „Der Konsum von Kokablättern hat positive therapeutische und soziale Funktionen.“ 

Allerdings mache ich mich nach dem Betäubungsmittelgesetz schuldig, wenn ich nur ein Koka-Blatt oder einen Koka-Teebeutel mit nach Hause nehme.

Auch als schuldig wurde  Alfonso ins Gefängnis von Chimoré,  das mitten im Koka-Anbaugebiet der Provinz Chapare liegt,  (im bolivianischen Departamento Cochabamba), eingeliefert. Den 15-Jährigen hatte die UMOPAR, (Unidad Móvil de Patrullaje Rural) die paramilitärische Drogen-Polizei, mit einem Sack Koka-Blättern auf den Schultern erwischt. Schlotternd vor Angst blickt er tränenvoll auf die Gitter, die ab sofort für zehn Jahre sein Leben umschließen. Nach dem bolivianischen Drogen-Gesetz muss  - in Umkehr der Beweislast - Alfonso seine Unschuld beweisen, nicht der Staatsanwalt die Schuld.  Alfonsos Blick tastet über Körper, die dicht auf dem Zellen-Boden hocken. Alles Bauern – keine Verbrecher. Sie reichen dem Neuen ein Taschentuch für die Tränen,  leihen ihm Löffel und Decke, denn der Staat stellt nicht einmal einen Pappkarton als Bett zur Verfügung. Aber daneben errichtet  er schon einen neuen Gefängnis-Trakt.

Bolivien betreibt das ehrgeizigste Anti-Drogen-Programm Südamerikas. Aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil für die USA Kokain als Problemdroge Nummer eins gilt. Mit Zuckerbrot und Peitsche wurden die Andenstaaten gezwungen, ihre eigene Bevölkerung einzusperren:  US-Entwicklungshilfe empfängt nur, wer Wohlverhalten zeigt, wer Koka-Felder vernichtet und Bauern verhaftet.

Seit  Präsident George Bush Senior das Koka-Blatt als  Geißel der Menschheit  bezeichnet, lauten die markigen US-Parolen: „War on drugs, Krieg den Drogen, going to the sources, die Wurzeln bekämpfen“.  Für Wahington ist es am billigsten, das Drogen-Angebot in den Anbaugebieten zu verbieten, auf zero, auf Null zu senken. 50 verschiedene Ministerien und Behörden, allein auf US-Bundesebene, sind in den Kampf gegen den Drogenkonsum- und  -handel involviert, darunter  zwei Hauptakteure:  das Verteidigungsministerium und die bereits von Präsident Nixon gegründete, inzwischen als internationale Rambo-Truppe berüchtigte Drug Enforcement Administration (DEA). Außerdem dürfen  auf Grund eines US-Rechtsgutachten von 1989,  ausländische Staatsbürger auf fremdem Territorium  verhaftet werden.
So befinden sich die Vereinigten Staaten  nicht nur im Krieg gegen Böses, sondern seit über 20 Jahren im Krieg gegen Drogen. Ein  innenpolitisches Problem wurde zu einem  außenpolitischem Anspruch gemacht:  
Satelliten orten weltweit Pflanzungen, die zu Drogen verarbeitet werden könnten. Unter Aufsicht und Ausbildung der DEA durchkämmt die örtliche Drogenpolizei (UMOPAR) Felder, stoppt Autos, stochert in Polstern, dringt gewaltsam in Häuser, dreht Matratzen um. Allein in Bolivien an den Osthängen der Anden wurden bereits 40.000 Hektar wertvollen Ackerlandes von den DEA-Flugzeugen mit Chemikalien besprüht. Diese Feldzüge haben zur Verwüstung ganzer Anden-Landstriche geführt. Jeder verwüstete Hektar verursachte an anderer Stelle zwei Hektar Rodung im Regenwald,  wo neue Pflanzungen angelegt werden, weil der Auslandsbedarf steigt. 

Problemlos finden sich zahlungskräftige Käufer  -  mit steigender Tendenz.  Nach Schätzung der UNO werde weltweit mehr für Drogen als für Nahrungsmittel ausgegeben, (Europäische Hochschulschrift der politischen Wissenschaften, Band 349) und das Drogen-Handelsvolumen stehe nach dem Waffenhandel an zweiter Stelle.

Dass Drogen vor allem ein Problem der gringos, der Fremden sind, wissen lateinamerikanische Regierungen längst, wagen es aber kaum zu sagen. Ihr  Kokablatt wurde bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein ausschließlich von der einheimischen Bevölkerung gekaut bzw. getrunken, für volksmedizinische und religiös-rituelle Zwecke verwendet. Das änderte sich schlagartig in den 70er Jahren:   Hatte eine Studie des Economic and Social Council (ESOSOC) der UN von 1950  die bolivianische Produktion  noch mit 2.600 t angegeben, so erreichte sie 1971 schon 6.056 t und 1980 ein Volumen von 58.300 t.  „Verantwortlich für diesen explosionsartigen Kokaboom war nicht die traditionelle eigene, sondern eine bisher ungekannte Nachfrage nach exotischen Drogen aus dem Ausland, vor allem bei der jungen Generation der westlichen Industrienationen. Zu ihrer Befriedigung standen beschäftigungs- und perspektivlose Menschen bereit, Menschen, die bereit waren für die Hoffnung auf ein Auskommen ein Leben am Rande der Legalität mit beträchtlichen Gefahren und Härten auf sich zu nehmen“, stellt der österreichische Anden-Forscher Robert Lessmann fest. Die Friedrich-Ebert-Stiftung gewährte ihm Studien-Aufenthalte in den Andenstaaten, Bolivien, Peru und Kolombien. Durch  Einblicke aus erster Hand begab er sich in die Niederungen der Bürokratien, der Militarisierung und in die Mechanismen der US-Vorherrschaft.

„Koka ist nicht Kokain“, verteidigen die Campesinos ihre Existenzgrundlage.  In Misskredit waren ihre anspruchslosen Sträucher, die dreimal im Jahr  zum Pflücken  bereit  sind,  erst durch seine chemische Umwandlung in Europa geraten. Böse Droge – gute Arznei!  A. Niemann Durch ein kompliziertes Verfahren gelang es A.Niemann, das wichtigste der 14 Alkaloide des Blattes, das HCL,  zu isolieren, fortan Kokain genannt. Es erwies sich nicht nur als wirksames Lokalanästhetikum, sondern wurde auch gegen Alkoholismus, Depressionen, Tuberkulose und Impotenz verabreich.  Zu den ersten Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit dieser Droge auseinandergesetzt hatten, zählte Sigmund Freud. Die Firma Merck aus Darmstadt begann 1862 Kokain zu kommerzialisieren, expandierte 1894 nach New York und ist bis heute  wichtigster Kokainlieferant. In Nord-Amerika erfreute sich der Stoff ab 1903 als Beimischung zur Coca Cola.

Nach dem bisherigen Stand der toxikologischen Forschung  sei die Koka-Drogen-Hysterie übertrieben, schreibt Forscher Lessmann.  Und der deutsche Mediziner Dr. Michael Valenti-Schlieper mit Wohnsitz in Connecticut geht noch einen Schritt weiter:  „Es ist erwiesen, dass nicht Kokain, sondern Alkohol die meisten Gewaltdelikte verursacht.“ 20 Prozent der US-Bevölkerung seien alkoholsüchtig. Dennoch  werde der Drogenkrieg  – ohne nennenswerte Erfolge – in dieser Form unreflektiert  weiter geführt. „Der Gefängnisbau boomt sowohl in den USA als auch im lateinamerikanischen Hinterhof.  Allein im Jahr 1998 saßen 78,8 Prozent  aller US-Häftlinge  wegen Besitz einer geringen Menge Drogen fest. Während der letzten 20 Jahre wurden 100 Milliarden Dollar  im Drogen-Krieg verschwendet.“  In seiner Public-Health-Studie fordert Valenti-Schlieper  den Ausbau  öffentlicher Gesundheitsvorsorge, die  Kriminalisierung aufzugeben - also eine fundamentale  Veränderung der US-Drogen-Politik.

In Europa wird der Besitz geringer Mengen Drogen kaum noch bestraft. Dennoch registriert die EBDD (Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht) in Städten Großbritanniens,  Spaniens, Italiens und der Niederlande  Zuwachsraten der Hauptdroge Kokain. Bestrafung  hin und her:  Am Kiffen lassen sich nur wenige hindern.

Der Drogenkrieg wird also unerbittlich fortgesetzt.
„Und worum geht es eigentlich in diesem Krieg?“ fragt Robert Lessmann nach seinem Lateinamerika-Aufenthalt:  „Um unmündige Bürger, die vom Staat davor bewahrt werden müssen, sich  Schaden zuzufügen? Um  Volksgesundheit? Um Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie? Um  nationale Sicherheit?“  

Der letztere Gedanke ist  Europäern im Zusammenhang mit Drogen fremd.  In den USA jedoch ist er Grundlage für die Einbeziehung des Militärs.
Beidseitig des Atlantiks liegt die Gefährdung durch die legalen Drogen (Alkohol,Tabak)  mit weitem Abstand vor den illegalen. Dennoch haben die europäischen Länder – von den USA getrieben – alle internationalen Konventionen gegen den Missbrauch illegaler Drogen unterzeichnet.

Diesseits des Atlantiks neigt man (noch) nicht dazu, Drogenbekämpfung  zu einer außenpolitischen Aufgabe zu machen,  obwohl Europa auf Wunsch Washingtons schon seit Jahren stärker in die Pflicht genommen werden soll.  

Kein anderes Blatt der Welt hat einen derartig kontroversen Ruf erlangt.  Es konnte sich - im Gegensatz zu Tabak - nie als exquisit durchsetzen, jedoch um so mehr als grünes Gold, als Geschenk der Götter und schließlich als Blatt der Rebellion:  Zuerst gegen die spanische Unterdrückung;  aktuell gegen den nordamerikanischen Hegemonie-Anspruch.