Mittwoch, 16. November 2016

MEXIKO, WAS WEIHNACHTEN WICHTIG MACHT

Laut, verpestet, unregierbar: Mexiko-Stadt! Wer hier ankommt, sehnt geistlichen Beistand herbei. Welchen? Den der 23 Millionen Einwohner, die sich offensichtlich nicht aus der Ruhe bringen lassen?

90 Prozent der Ureinwohner bekennen sich formal zu Christus. Dieser hielt im Zuge eines großangelegten Missionswerkes - unmittelbar nach Ankunft des spanischen Eroberers Hernán Cortés anno 1521 - in Mittelamerika Einzug. Christus, der - wie kein anderer vor ihm - es mit den Mühseligen und Beladenen besonders gut meinte. Wie und wen feiern sie im Dezember?

Die in Mexiko mit Bargeld Beladenen freuen sich auf das Fest genau so wie die Besserverdienenden Europas. Scheinbar sorglos schieben sie ihre randvollen Einkaufswagen durch die Gänge der Konsum-Tempel Super-Rama, Wal-Mart oder Chedraui. Volle Gabentische zur Geburt Christi sind in der Neuen Welt, genau wie in der Alten Welt, wichtiger als vielleicht eine Wallfahrt zur Basilika der Jungfrau von Guadelupe, zu jenem Hügel von Tepeyac, wo noch vor 500 Jahren die Azteken-Göttin Tonantzin angebetet wurde.

Die mit Kummer Beladenen hingegen schöpfen hier jeden Sonntag neue Hoffnung. Besonders am 12. Dezember ist rund um die Basilika kein Durchkommen mehr. Aus allen Teilen des Landes - aus Chiapas und Oaxaca, aus Coahuila und Chihuahua strömen sie millionenfach herbei. Kinder und Greise, Indios und Mestizen bitten ihre Madonna von Guadelupe um Wohltaten und Wunder. Viele rutschen die letzten zwei Kilometer auf Knien, meistens von ihren Familien begleitet, die ihnen besorgt Pappkartons unter die blutenden Beine schieben.

Nicht der 25. Dezember, sondern der 12. Dezember ist für die Mittellosen Mexikos der bedeutendste Feiertag, jener Tag, des Jahres 1531, als dem frisch zum Katholizismus bekehrten Indio Diego die Virgen Morena, die Jungfrau mit dem dunklen Indio-Gesicht, ihn um den Bau einer Kapelle bat und auf einem kahlen Hügel Rosen erblühen ließ. Juan Diego bedeckte die Blumen mit seinem Umhang und trug sie zum Bischof. Als dieser den Stoff ausbreitete, soll sich das Bild der Madonna abgezeichnet haben. Heute hängt diese Reliquie vielbewundert unter Glas in der Basilika.

Weit über die Hälfte der Städter Mexikos leben in Verhältnissen, die als arm eingestuft werden müssen. Am meisten sind die Indígenas, die Ureinwohner, betroffen. Nur noch an wenigen Stellen findet man Reste ihrer alten Kultur, einer Hochkultur, der solch bittere Armut fremd war. Ihr Herrscher Moctezuma habe, so die Überlieferung, vorbildlich für seine Untertanen gesorgt: Gingen den Familien die Vorräte aus, leerte er für sie seine vollen Speicher.

So benötigte die gewaltige katholische Missionierung zwei Jahrzehnte, um das Kreuz, das Symbol ihrer Macht, in Mexiko dauerhaft zu errichten.

Aber wurden die Azteken von den katholischen Spaniern wirklich jemals besiegt?

Oder durchdringen den heutigen Katholizismus immer noch indígene Riten, zum Beispiel in Form der dunkelhäutigen Kompromiss-Madonna von Guadelupe, gleichsam als eine zweite, tröstende Realität? In der Vorstellung der Einheimischen kann nur sie helfen, wo ihnen niemand sonst mehr hilft. Diese sanfte Guadelupe ist ihnen im Grunde viel näher als der blutende Gekreuzigte.

Diesen Verdacht hegte Guillermo Schulenburg (deutscher Abstammung) längst.

30 Jahre war er Priester der riesigen Kathedrale von Guadelupe. Als im Jahr 2000 die Heiligsprechung des Juan Diego anstand, hatte er ausgepackt: "Juan Diego hat es nie gegeben, er war die für katholische Kirche lediglich ein Symbol. Ihn und seine Vision hat es nie gegeben". Die Gläubigen waren irritiert. Ein Aufschrei ging durch ihre Reihen. Schulenburg war seinen Priesterposten los. Aber die Diskussion in Mexiko um die wundersame Vision von anno 1531 und wer-wem-wann-beistehen-darf oder was-Weihnachten-wichtig-macht, dürfte damit noch lange nicht beendet sein - nicht nur in Mexiko.

 

Heidemarie Blankenstein

México-City, 16. November 2016

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