Sonntag, 1. Juli 2007

Minen im Zaubertal


Hartmut Blankenstein ist Deutscher Sonderbotschafter für die Polizeireform. Auf Reisen spüren er und seine Frau der Normalität des kriegsbedrohten Alltags nach

Regnet es in Kabul, überspülen Plastiktüten, Aas und Dreck die Gassen. Abwasser- und Abfallentsorgungen
verlaufen offen am Wegesrand. Dann haben es die alten Männer in ihren Sandalen schwer, wenn sie sich mit hoch beladenen Obstkarren in Richtung Markt abmühen. Immer wieder versinken sie in den schlammigen Fahrrillen. Rillen, die auch unser Geländewagen zieht, mit dem wir ins 30 Kilometer entfernte Bergdorf Paghman wollen. Am Steuer der afghanische Fahrer, Mohammed Nasir. Als landeskundiger Begleiter der Pandschabi Mr. Saband vom afghanischen Außenministerium. Wir fahren unbewaffnet und hoffen auf den guten deutschen Ruf in dieser Gegend, auch auf unsere Unauffälligkeit. Jedenfalls unterscheiden wir uns sehr
von der Isaf (International Security Assistance Force in Afghanistan), jenen Spähtrupps, die Autorität und Aktivitäten der legitimen afghanischen Regierung absichern sollen. Sie hocken hoch oben auf tarnfarbenen Schützenpanzerwagen hinter Maschinengewehren und versuchen wild gestikulierend, den chaotischen Kabuler
Verkehr auf Abstand zu halten. Das gelingt meistens nicht. Es kam vor, dass sich bei diesen Patrouillen ein nervöser Schuss gelöst hat. Jetzt muss die Bevölkerung – vier von fünf können nicht lesen – rote Warnschilder an den Militärfahrzeugen beachten: „30 Meter Abstand halten!“ Und das in einer pulsierenden Millionenstadt,
die am Verkehrschaos zu ersticken droht, weil ihre Hauptadern durch die monströsen Beton- und Sandsackbarrikaden rücksichtslos durchtrennt sind: zum Schutz des Isaf-Hauptquartiers, der weitläufigen Anwesen von USAid, der CIA sowie der Botschaft der USA und des Präsidentenpalastes. Endlich erreichen wir die Ausfallstraße nach Westen. Ernst und aufmerksam stehen Kinder am Straßenrand und wollen Tomaten verkaufen. Ihre abgemagerten Körper bedecken Pyjamas, ähnlich der alten Taliban-wangskleidung, oder verschlissene Hosen, nur von einer Schnur gehalten. Wir blicken in Kindergesichter mit tiefen Falten um den Mund und Tränensäcken unter den Augen, und dann kaufen wir Tomatenmengen, die bis zum Jahresende reichen. Sie bedanken sich überschwänglich.

Aufs Gebirge zu. „Wir durchqueren jetzt zwei Stammesgebiete“, erklärt unser afghanischer außenamtsbeamter. „Deren Kommandanten, Abu Sayaf und Mullah Esat, sind zwar Nachbarn, aber keine Freunde. Auch im Jahr des Herrn 2007 und im Jahr des Propheten 1386 bekriegen sie sich, jetzt vorwiegend
mit politischen Mitteln. Es geht immer um Macht, nicht um Frieden.“ Komplexe, die für uns nicht durchschaubar sind. Erkennbar sind plötzlich zwei quer stehende Pkws. Versperren die etwa unseren Weg? Wir nähern uns vorsichtig. Die Behinderung löst sich zwar auf, aber die Autos nehmen uns in die Zange: Ein
Wagen fährt vor, der andere verfolgt uns. In jedem erkennen wir vier finstere Gestalten in Militärklamotten, Kalaschnikows zwischen den Knien. Leise äußert sich Furcht: „Das war’s dann wohl . . .“ Entführung hier und jetzt? Und dann noch selbst verschuldet? Nach der Entführung dreier Deutscher und dem Tod dreier deutscher Polizisten dürfen sich Botschaftsmitarbeiter, auch Militärs, nur unter Einhaltung strengster Sicherheitsregeln aus ihren Festungen herauswagen.

Wir haben das ignoriert. „Die Menschen sehen in dieser Gegend alle so aus“, sagt der Freund aufmunternd. Misstrauisch beobachten wir unsere Eskorte. Die parkt in Paghman vor einem Tor. Wollten diese
acht Afghanen wirklich nur bei der Verwandtschaft Tee trinken – bewaffnet? Sollte uns bei der allgemeinen aufgeregten Fokussierung auf Afghanistan jegliches Augenmaß verloren gegangen sein? Sieben Jahre hatten die Russen versucht, Paghman, das Paradies Afghanistans, einzunehmen. Während der Fahrer den geländegängigen Wagen weiter hinauf in die Berge quält, schwärmt unser Begleiter: „Diese Gegend war voller blühender Gärten und fruchtbarer Felder. Die exquisite Sommerfrische der Hauptstädter.“ Meine Furcht löst sich in Staunen auf: Wir hören einen rauschenden Bach, das Geklapper von Teegeschirr, schnuppern Bergluft vermischt mit gegrilltem Kebab und sehen ringsherum Männer, die anstelle von Waffen dicke Lavendelsträuße
tragen. Unter schattigen Bäumen liegen Teppiche und Polster, die zum Verweilen einladen.

Doch weiter zum Kargha-Stausee. Wieder erreichen wir ein ehemals stark umkämpftes Gebiet, geschundenes Land – in einen Golfplatz verwandelt. Seine Greens bestehen aus ölgetränktem Sand, während der gesamte Platz ein Gemisch aus Gestrüpp und Geröll ist, aber, wie uns versichert wird, von Minen geräumt. Also wagen wir einige Abschläge und schauen uns im Golf-Club um. Wir spüren einen Hauch von Normalität, der unserem Afghanistan-Bild aus einem Gebirge von Gefahr und Trostlosigkeit nicht ganz entspricht.

Es dämmert; immer noch fahren über den riesigen See Motor- und Tretboote gemächlich dahin. Manche Männer baden oder angeln. Keine Sandsackbarrikade wie in Kabul versperrt den Blick. Als wir zu frischem Kebab und duftendem Fladenbrot eingeladen werden, stellt der Kellner eine schwarze Plastiktüte auf den Tisch. Wir packen drei Dosen aus: Wieder so eine Fata Morgana in einem islamischen, alkoholfreien Land: echtes Heineken-Bier! Hier am leise plätschernden Kargha-See, mitten im Gebiet des strengen Kommandanten Mullah Esat, scheinen uns alle Probleme ganz weit weg. Ein neuer Tag, ein neues Ziel. „Kommt ihr mit in mein Pandschir-Tal?“, fragt Mr. Saband. Seinen Kopf schützt eine runde Pandschabi-Filzmütze. Über Leinenhemd und Pluderhosen trägt er ein westliches Jackett, in dem ein Mobiltelefon steckt, das unaufhörlich klingelt, als wir Kabul in Richtung Kundus verlassen. Über der Straße ein Banner: „Unsere
Polizei ist der Lichtblick der Stadt!“ Noch lange bevor wir die bunte und malerische Provinzhauptstadt Charikar erreichen, kommen wir durch grauenvoll zerstörte Dörfer. Den Menschen blieb nur die Flucht: sechs Millionen nach Pakistan, zwei Millionen in den Iran. Wem die Flucht nicht gelungen war, der wurde Opfer der machthungrigen Stammesführer, die sich von den gegenüberliegenden Gipfeln bombardierten und die dicht besiedelte Kabuler Hochebene in Schutt und Asche legten, nachdem die Russen besiegt waren. Afghanen gegen Afghanen. Einer von ihnen war der „Löwe des Pandschir-Tals“, General Massoud. Sein Beiname resultiert aus der erbitterten Verteidigung seines schönen Pandschir- Tals gegen russische Eindringlinge und
später gegen die paschtunischen Taliban. Welch Zauber über diesem fruchtbaren Tal! Verständlich, dass es einst zum „Hippie-Trail“ gehörte. Hierher kamen Jugendliche aus dem Westen wegen der grandiosen Natur, des wilden Lebensstils und des besten Haschisch der Welt. Sie wurden zu Kolonialisten, auch zu Geldbringern, aber zu würdelosen. Erst die Invasion der Sowjetunion 1979 beendete diese Art des touristischen Treibens. Doch Afghanistans wichtigste Einnahmequelle versiegte.

Einsam donnert heute der unbändige Pandschir-Fluss durch die hoch aufragenden Felswände. Märtyrergräber, mit grünen Fahnen geschmückt, am Wege. Überall, sogar mitten im klaren Flusswasser, liegen ausgebrannte Panzer. Manch ausgebombtes Militärfahrzeug dient als Kiosk. Ein Bauer geht hinter seinem Pflug her. Mitten auf seinem Acker ein verrosteter Panzer. Der Bauer pflügt vorsichtig um das Wrack herum. Am Straßenrand laufen Kinder mit Brennholz und Frauen mit Wassereimern. Sie meiden die Gräben, in denen noch Minen liegen könnten. Im und am Fluss gehen die modernen afghanischen Familienväter ihrer
Lieblingsbeschäftigung nach: Sie waschen sorglos ihr Auto.

Mr. Saband ist in diesem Tal zu Hause. Bevor er uns in sein Haus einlädt, führt er uns feierlich auf eine Anhöhe zum Grabmal von General Massoud, dem Helden der Tadschiken. Er führt es vor wie ein
Heiligtum: „Fremde Eroberer haben gegen uns keine Chance. Wir haben sie alle besiegt.“ 55 verschiedene stolze Ethnien beherrschen Afghanistan. Wo ist der Faden, der aus diesem Machtlabyrinth herausführt? Wer kann der jetzigen Regierung das Gewaltmonopol sichern? Fremd Truppen etwa?

Das Haus seiner Familie liegt hoch am Hang und verbreitet Ferienstimmung. Nach der steinigen Kletterpartie sind wir froh, auf den bunten Kissen des Salons ausruhen zu dürfen. Frische Bergluft weht durch die weißen
Spitzengardinen. „Alles war bis auf die Grundmauern zerstört“, berichtet der Hausherr. Die Großfamilie ist versammelt: Brüder, Neffen – sogar die Hausfrau, unverschleiert. „Bis vor einem Jahr war unsere gesamte Familie mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Das hat uns von unserem Kummer abgelenkt, denn unsere beiden Söhne sind für General Massoud gestorben.“ Beim Namen Massoud liegt ein gewisser Stolz in ihrer Stimme. Sie steht mitten im Raum und klagt über die ungerechten, radikalen Talibanjahre. Dann breitet sie eine Plastikfolie über den Perserteppich, schleppt Tabletts mit Reis, Fleisch, Gemüse, Salat, Brot und sogar Coca-Cola herbei. Aus einer Ecke dudelt ein Fernseher ein indisches Musik- und Tanzprogramm ab. Hoffnung liegt gleich am Kabuler Stadtrand. Neu errichtete glitzernde „Hochzeitspaläste“ bieten Platz zum Feiern, Frauen und Männer in getrennten Sälen. Ebenso wurden Trauerhäuser errichtet, wo Trauernde Kondolenzgäste
bewirten können, wenn ihr eigener Wohnraum zu klein ist.

Zu klein ist es fast überall im Nachkriegskabul. Die Rückkehrer aus den Flüchtlingslagern in Pakistan und im Iran finden kaum eine Unterkunft. Aus Not wurden rostige Container in Wohnungen oder Läden umfunktioniert. Daraus werden Trauben, Melonen, Kartoffeln, Zwiebeln, kleine Bananen, Walnüsse oder blutige Schlachterware feilgeboten. Kabul ist also kein perspektivloser Flecken. Nicht nur Zerstörung und Leid bestimmen seine Architektur: Da erstreckt sich gleich neben dem „Landmark“-Hotel ein glanzvolles Einkaufszentrum aus Marmor, Glas und eleganten Treppen. Angeboten werden elektronische Geräte und regionale Mode. Unsere bescheidene Herberge steht an einer belebten Verkehrsader. Morgens um sieben schlage ich mich durch dichten Verkehr zur Backstube gegenüber. Ampeln oder Zebrastreifen? Gibt es noch nicht. Durch Abgasschleier steigt mir der Duft frischen Brotes in die Nase. Acht Bäcker hocken
teigknetend Tag und Nacht wie Zarathustras Söhne über einem Feuerloch. Über dem heißen Abgrund Brotfladen. Hat diese Szene auch etwas Pittoreskes, so täuscht sie nicht über eines hinweg: Zurück zur „Schweiz Asiens“, wie das Land vor 80 Jahren von König Aman - ullah genannt wurde, ist es noch ein langer,
heißer Weg.