Dienstag, 11. Dezember 2007

Zypern, Ein Zwischenruf


Wie ein Blitz aus dem heiteren Himmel des Sommers 1974 überraschte die türkische Invasion das friedliche, fruchtbare, multikulturelle Zypern, das sich unter einem gütigen Patriarchen nach langer Unterdrückung durch Osmanen und Briten seiner jungen Unabhängigkeit erfreute.

So stellte Präsident und Erzbischof Makarios den Fall seines Staates bei seinem ersten Auftreten nach der türkischen Intervention vom 20. Juli 1974 vor den Vereinten Nationen in New York dar, und so übernehmen die Medien und auch Teile der offiziellen Geschichtsschreibung, die Schulbücher – wahrscheinlich nicht nur in Griechenland – und schließlich sogar die Brüsseler Bürokraten und Europapolitiker die Perzeption der türkischen Aktivitäten als ungerechtfertigten, völkerrechtswidrigen Gewaltakt eines auf nationalistische Expansion bedachten Staates.

Viele der Akteure handeln dabei wider besseres Wissen, denn die Ereignisse von 1963/64, die zum Aufbrechen der Verfassung von 1960 und sogar schon zur Stationierung einer der ersten UN-Friedenstruppen führten, sind in der Presse und bei den Diskussionen im Rahmen der UN hervorragend dokumentiert. Andere mögen aus Desinteresse oder müde der „zyprischen Querelen“ ignoriert haben, dass nicht erst die innergriechischen Auseinandersetzungen des Jahres 1974 zum Auslöser der türkischen Intervention wurden, sondern das türkische Interventionsrecht schon 1963 und danach immer wieder alle Ereignisse in und um Zypern überschattete und in politische Überlegungen einbezogen werden musste, dass die Türkei nicht ohne Grund ihre Interventionsstreitkräfte im Süden in ständiger Alarmbereitschaft hielt.

Einige Anmerkungen, die beispielhafte Ereignisse des Jahres 1972 betreffen, können zur Erläuterung dienen, denn auch sie werden heute kaum mehr erwähnt und sollen wahrscheinlich dem Vergessen anheim fallen, weil sie der herrschenden, manipulierten Auffassung vom „türkischen Überfall“ widersprechen. Doch machen sie deutlich, welchen Provokationen die türkische Garantorstellung in Zypern immer wieder ausgesetzt war:

Die Insel ist schon 1972 faktisch dreigeteilt: Nur im griechisch-zyprischen Gebiet kann die griechisch-zyprische Regierung der „Republik Zypern“ ein Machtmonopol ausüben, die britischen Gebiete Dhekelia und Akrotiri unterstehen der Souveränität Londons. Viele türkische Enklaven, besonders die große im Norden zwischen Nikosia und Kyrenia, dürfen und können alleine von keinem Griechisch-Zyprer betreten werden. Hier kontrollieren die türkisch-zyprische Selbstverwaltung und die Turkish Fighters rigide ihr Gebiet. Besondere Straßen werden zur Umgehung des türkisch-zyprischen Sektors im Norden gebaut, und nur 2 x täglich dürfen Zypern-Griechen per Auto unter strikter UN-Kontrolle und Begleitung in einem kilometerlangen Konvoi diesen Sektor direkt durchfahren.

Auf der Fahrt durch den Konvoi-Korridor kann man die großen Flächen mit einfachen Flüchtlingsunterkünften beobachten, die von den türkisch-zyprischen Behörden nach 1964 für die aus ihren bedrohten Wohnorten geflüchteten Zyperntürken errichtet wurden – mit Mitteln aus Ankara, um eine Abwanderung oder Evakuierung im großen Stil zu verhüten. Kein Griechisch-Zyprer darf seit 1964 (und später noch bis 2002 !) den türkischen Sektor betreten; Türkisch-Zyprer können etwa seit 1968 - als eine Art Gastarbeiter zur Behebung des Arbeitskräftemangels – wieder in das griechisch-zyprische Gebiet überwechseln.

Offizielle interkommunale Gespräche zwischen den Volksgruppen finden zwar statt, machen aber nur sehr zähflüssig Fortschritte; Staatspräsident und Ethnarch (Volksgruppenführer) Makarios identifiziert sich nicht mit ihnen und lässt seinen Vertrauten Glavkos Klerides verhandeln.

Da fordern am 2. März 1972 und erneut dringlich am 27. März 1972 die drei Bischöfe der zyprisch-orthodoxen Kirche – und parallel auch der orthodoxe Erzbischof  von Athen und ganz Griechenland Hieronymus – Erzbischof Makarios ultimativ auf, von seinem Amt als Staatspräsident zurückzutreten, und drohen, im Falle der Weigerung seine Absetzung als Erzbischof auszusprechen. Er habe – so u.a. ihre Begründung – sein weltliches Amt in einer Art ausgefüllt, die gegen die nationalen griechischen Interessen und gegen die Interessen der Kirche gerichtet gewesen sei, indem er versucht habe, ein „Cyprus consciousness“ zu schaffen. Er sei außerdem für den Prestigeverlust der Kirche, die Ausbreitung des Nihilismus und Atheismus, das Anwachsen des Kommunismus und die Festigung der türkischen Position verantwortlich (so und in dieser Reihenfolge !).

Hauptargument ist schließlich, die von Makarios betriebene Politik des „feasible“ verstoße gegen das Ideal der ENOSIS und führe zur Trennung Zyperns vom Volksganzen („national trunk“). Am 1. Juli 1972 wiederholen die Metropoliten ihre Aufforderung zum Rücktritt und setzen dem Erzbischof (und Präsidenten) zur Entscheidung eine Frist von 10 Tagen.

Der Angriff ist nur aus der politischen Konfrontation Athen – Nikosia heraus verständlich. Makarios mit seiner Unabhängigkeitspolitik, seiner 30.000 Mann starken Nationalgarde und seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Zyperntürken steht dem Ausgleich Athen – Ankara und dem panhellenischen Hegemonieanspruch Griechenlands im Wege. Athen weiß in dieser Lage die Metropoliten für sich zu gewinnen. Die Reaktion auf diese konzertierte Aktion der Obristen und Metropoliten ist jedoch anders als erwartet:

Noch innerhalb der Frist weist Makarios die Angriffe scharf und klar zurück: „With the wolves swooping down the shepherd does not desert the sheep and flee“. Durch zahllose Treue- und Unterstützungsbekundungen der zyperngriechischen Bevölkerung geht er gestärkt aus der Konfrontation hervor.

Außenpolitisch vertieft sich der Graben zu Athen, doch das übrige Ausland steht fest geschlossen zu Makarios. Viele Staaten der Dritten Welt, in denen Zypern und besonders Präsident Makarios hohes Ansehen genießen, übersenden Sympathieerklärungen.

Wichtiger ist jedoch, dass auch die westliche Welt diesen Manövern zur Absetzung des Staatspräsidenten nicht tatenlos zusieht: Die USA, denen ein neuer Unruheherd im Mittelmeer bei der 1972 stärker werdenden Tendenz zur politischen Entspannung und zum Abbau überseeischer Verpflichtungen schweres Kopfzerbrechen bereiten würde, informieren die Athener Regierung umgehend, dass sie an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Sicherheit an der Südostflanke der NATO aufs äußerste interessiert seien. Ähnlich interveniert Großbritannien, das bei jeglicher Unruhe auf Zypern um den Fortbestand seiner souveränen Basen fürchten muß. Und die Türkei? Beobachter und Gesprächspartner der türkischen Diplomatie im Jahre 1972 sind sich einig, dass militärisch-machtpolitisch nur eine Kurzschlußhandlung  extrem nationalistischer Kreise dazu führen kann, den Präsidenten abzusetzen. Mit dem gewaltsamen Sturz eines verfassungsmäßig gewählten Staatsoberhaupts würden die nationalistisch-klerikalen Putschisten die Prinzipien westlicher Demokratie gröblich verletzen. Vor allem wäre die Frage nicht gelöst, was nach Makarios käme. Das Resumée der politischen Gespräche mit türkischen Partnern zu diesem Punkt habe ich in einer Aufzeichnung vom August 1972 festgehalten: „Sollten diese Putschisten nach einer Absetzung Makarios’ versuchen, ohne vorhergehende Wahl eine farblose Marionette an seine Stelle zu setzen, so käme es mit großer Wahrscheinlichkeit zu chaotischen innenpolitischen Zuständen, wenn nicht zum Bürgerkrieg. Einer weiterhin zu Makarios stehenden, aufbegehrenden und aus früheren Zeiten her gut bewaffneten Bevölkerung gegenüber müsste hart durchgegriffen werden, trotz aller ENOSIS-Parolen würden die Kommunisten und auch weitere Teile der Bevölkerung der indirekten Herrschaft des Athener Obristenregimes starken Widerstand entgegensetzen, und nicht zuletzt würden im Falle von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen innerhalb des griechischen Bevölkerungsteiles die Türken unter Berufung auf das Sicherheitsinteresse ihrer in isolierten oder gemischten Gemeinden wohnenden Volksangehörigen versuchen, die Teilung der Insel unter Ausdehnung der jetzt schon von ihnen beherrschten Enklaven zu vollziehen.“
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1972 kam es deshalb doch nicht zum vollen Ausbruch des Konflikts zwischen den Athener Obristen, ihren chauvinistischen Partnern in Nikosia und dem Präsidenten Makarios. Erst zwei Jahre später ließen sich die radikalen Panhellenen in Griechisch-Zypern  nicht mehr bremsen und stürzten mit Makarios endgültig  die schon seit 1963 nur noch auf dem Papier stehende verfassungsmäßige Ordnung Zyperns. Damit kam aber  fast automatisch die sich schon Jahre vorher abzeichnende Entwicklung in Gang, die zu der sich inzwischen verfestigenden  Teilung der Insel führte.

Montag, 1. Oktober 2007

Kleider ordnen - internationale Dresscodes

DU BIST, WAS DU TRÄGST:
WAS INTERNATIONALE DRESSCODES UNS ERZÄHLEN

Vor einer viertel Stunde bin ich gelandet. Exit – zum Ausgang. Milchige Glastüren öffnen sich. Auf vieles war ich vorbereitet - aber nicht auf das jetzt:  Aus tausend dunklen Augenpaaren werde ich angestarrt.  Bis zum Taxi muss ich mich durch ein dichtes Menschen-Spalier bewegen, vorbei an weißen wallenden Gewändern der Männer und den schwarzen Kutten vereinzelter Frauen. Sie alle gehören zum Sultanat Oman, dem südlichsten Zipfel der Arabischen Halbinsel. Da gehe ich nun und kann nicht anders: „Allah, bitte, schick mir einen dieser unförmigen Umhänge oder wenigstens ein Kopftuch!“ Denn plötzlich spüre ich Nacktheit, eine,  die ich als Ausgeliefertsein  bezeichnen möchte.   

Ausgeliefert in eine völlig andere Welt. Nichts Alltägliches für mich. Also her mit dem Knigge für Nichtmoslems! Ich staune.  Wichtigstes Kapitel: Die Kleiderordnung. Bis zu dieser Flughafen-Glastür fühlte ich mich in unauffälligem Hosenanzug durchaus korrekt gekleidet, Arme und Beine sittsam bedeckt.
Trotzdem ist jetzt zweifellos Befangenheit  mein Mitbringsel.  Ich bin beruflich viel unterwegs,  lande in Ländern,  in denen Modediktate italienischer Edelschneider oder spanischer Konfektionsketten Modernität, Sportlichkeit oder Seriosität signalisieren wollen, die sogar in  gewisser Weise völkerverbindend entworfen werden - aber für welche Völker? Für die Besserverdiener von Berlin, Singapur, von Tokyo, von Madrid, Moskau,  New York,  London, Paris oder von Rom?  Und ich da zuweilen mitten drin, zweifellos jedes Mal neu verunsichert: Ich bin Deutsche, mir hängt in Geschmacksfragen ein schlechter Ruf an,  besonders in Sachen Mode.  Stimmt, denn häufig treffe ich meine Kleiderauswahl nach praktischen Aspekten, ganz im Gegensatz und zum Entsetzen meiner romanischen Freundinnen.  Die Trendsetter-Rolle liegt mir nicht so, eher die Stimmungslage:  Ist mein Dekolleté tief, mein Rock kurz, nenne ich es Freizügigkeit, sogar Befreiung.  Es kommt auch  vor, dass ich mich modisch wegducken möchte. Dann beneide ich so manche die Araberin unter ihrem weiten Gewand, die schöne Inderin, die nie ihre Beine zeigen wird (wohl aber ihren Bauch) oder die traditionelle Koreanerin, die ihre Hände versteckt hält.  Aber ob das alles auf Männer anziehend wirkt, ob meine Bekleidung  irgendeiner Tradition oder Moralvorstellung entspricht, darüber habe ich bisher nie nachgedacht.

Hier im tropischen Reiseziel angekommen, ist es auf einmal so weit: Nachdem mich der klimatisierte Airport-Bereich freigegeben hat, haftet nicht nur mit jedem Schritt meine europäische Robe feuchter an mir, ich empfinde obendrein jeden Blick als stechend. Man scheint mir mit den Augen zu folgen bis ich im Taxi verschwunden bin. Was ich in diesem Land will, ist nicht zu erkennen, und mit meinem unbedeckten Haar bin ich wohl schon ein beachtlicher Reizfaktor. Unsicher gehe ich voran.   Sind diese fremden Blicke interesseloses Wohlgefallen oder gar Skepsis gegenüber dem Auftreten einer westlichen Frau?

Diese Frage ist eine an die andere Kultur. Eine tückische Frage, denn sie entzieht sich raffiniert der  genauen  Beantwortung. Befinden wir uns beim Thema Kultur-Annäherung noch immer bei unseren tausendjährigen Vorfahren?

Nur einige Flugstunden von Berlin entfernt, gilt mein dunkler Hosenanzug als  „Männerkleidung“ – laut Islam-Knigge bin ich nun  eine der ernstesten Bedrohungen islamischer Rechtgläubiger. „Frauen dürfen keine Männerkleider tragen; denn der Prophet verfluchte Frauen, die sich wie Männer kleideten: Werft sie aus euren Häusern“!  Ich blättere im „Hidjaab, der Kleiderordnung der Muslimischen Frau nach Quran und Sunnah“ und bin baff. Dieses Druckwerk schreibt doch tatsächlich den Frauen  in allen Einzelheiten vor, wie sie sich außerhalb des Hauses zu bewegen haben. Begründung?  „Die islamische Frau muss vor den Blicken fremder Männer geschützt  werden, weil eine Frau ohne Hidjaab, die Männer-Blicke auf sich lenkt und dies zu niedrigen Motiven und Begehren der Männer führen kann.“

Folglich geht es bei der Verhüllung der Frau immer um den Mann? Seinetwegen, seines Triebes wegen, seiner frivolen Gelüste wegen müssen meine moslemischen Schwestern in Sack und Asche gehen, müssen bei tropischen Temperaturen unter ihren schwarzen Stoffen wie in einer finnischen Sauna schwitzen? Sind Osteoporose –und Rachitisgefährdet, weil kein Sonnenstrahl, kein Vitamin D, ihre Haut trifft.  Ich versuche mich  immer wieder in diese bizarre Denkweise hineinzuversetzen. Es will mir nicht gelingen. „Stellt Eure Reize nicht heraus wie in der früheren Zeit der Unwissenheit“  (Sure 33.33) befiehlt der Koran.  

Welche Zeiten sind gemeint? Jene im Paradies, als unsere Urahnen  splitterfasernackt und ungeniert zwischen den Apfelplantagen umher irrten, und zwar solange, bis Eva ihren Adam verführte, vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Gemäß Altem Testament ist SIE  durch diese erste Sünde für das Unheil und die Mühsal der gesamten Menschheit verantwortlich. Von Stund an begann sich das erste Menschenpaar zu schämen: „Wo verstecken, wie bedecken“?  fragten sie bange. So startete der Mode-Stress. In ihrer jähen Not griffen die beiden zum nächst Besten: zum Feigenblatt,  später zum Fellmäntelchen.

„Frühere Zeiten der Unwissenheit?“ Oder sind die antiken Zeiten, die der griechischen Mythologie, gemeint, als viele starke Göttinnen den Männern Beine machten? Was wissen wir noch von der Macht der Göttinnen Hera, Hestia, Gaia, Hemera oder Eurybia, von Athene und Aphrodite? Das müssen echte Power-Weiber gewesen sein, so herkulisch,  dass sich  – der Verdacht liegt nahe - die Männerwelt mit der Erfindung neuer patriarchalischer Religionen an ihnen rächen wollte? Denn – eigenartig - allen drei Religionen des Buches, Judentum, Christentum sowie der Islam,  pflegen oder pflegten Frauen-Unterdrückung. Sie wurden versteckt und bedeckt, kurz: Es entstand eine finstere Geschlechterbeziehung. Apostel Paulus hatte befunden, dass der Mann Abbild Gottes sei, die Frau hingegen nur Abbild des Mannes, sie müsse deshalb ihren Kopf bedecken. Zu Mohammeds Zeiten diente der Schleier der sozialen Abgrenzung und war Frauen aus privilegierten Kreisen vorenthalten. Erst langsam avancierte er zu einem hochaufgeladenen Textil.

Andererseits wirkten die verhüllten Musliminnen auf damalige Kolonialherren  höchst reizvoll. Gleichzeitig wurden daheim  die exotischen und erotischen Schönheiten – vielleicht als verkappte Lobeshymne auf die keusche westliche Frau des 19. Jahrhunderts - verurteilt.  Alle in puritanischen Zeiten verbotenen Handlungen wurden – zuweilen auch als Phantasie -  in die ganz andere Welt, in die des Orients, verlagert.
Rada Ivekovic,  kroatische Philosophin, formuliert das so: „Im Westen gehören zu den Hauptmodellen des Anderen der Orient, der Islam und die Frauen. Und auf jenes Andere wird alles Negative projiziert.  

Es ist vorgekommen, dass durch westliche Schwerenöter  die Orientalinnen damals gezwungen wurden, den Schleier abzulegen, damit ihre voyeuristischen Maler und Fotografen Harem-Bilder mit halb nackten Damen produzieren konnten. Das gehört zu einer der vielen schlechten  Erfahrungen  mit der Präsenz des Abendlandes. Sie prägen das gesamte gesellschaftliche Leben in den postkolonialen Staaten der Arabischen Welt, wobei die radikale Rückbesinnung auf  die islamische Kultur eine wichtige Rolle spielt.  Geschlechterspezifische Konflikte bleiben tabuisiert.  Formen des Widerstandes, die es in den 1300 Jahren der Geschichte des Islams gab und an denen Frauen aktiv beteilig waren, werden bis heute ignoriert.

„Die Bedeckung mit Kopftuch und Mantel hebt die Gleichheit der Schwestern im Islam hervor und entlastet vom Leistungsdruck weiblicher Schönheitskonkurrenz“, schreibt die ägyptische Wissenschaftlerin Fadwa El Guind.  Konkurrenz unverwünscht? Die Ägypterin erklärt weiter: Das zentrale Motiv sei,  durch eine  bescheidene und anständige Kleidung der Muslima dem Willen Gottes zu entsprechen.  So stehe die Muslima ganz im Gegensatz zu verwestlichter Kleidung die mit schamloser Entblößung und damit einer Entwürdigung der Frau verbunden werde, meint die Ägypterin.

Aber gerade im chaotischen Kairo werden, so wie ich’s sah, die Kleidervorschriften nicht extrem streng gehandhabt, ebenso in Tunesien, in Algerien, Marokko oder dem Libanon.
Unterhalb der Corniche von Beirut habe ich im Hochsommer badende Mädels beobachtet, über denen sich ein stattlicher Stoff-Ballon blähte, als sie in voller schwarzer Moslem-Montur inklusive Kopftuch zu schwimmen versuchten. Danach  entstiegen wie  ein nasser Kartoffel-Sack dem Mittelmeer.  Indessen räkelten sich unbekümmert gleich nebenan am Pool des Hilton-Hotels von der Sonne gegerbte Bikini-Beauties libanesischen Urprungs. Welch ein Kontrastprogramm der Mode! Und die verrät einiges über die Gesellschaft, ihre Konventionen, ihre sozialen Verhaltensweisen

Vom Flugplatz fahre ich per Taxi  zur Sultan Qaboos Universität ausserhalb der Hauptstadt Maskat im Oman. Es ist das  Musterland der streng Arabischen Welt in Sachen Reform und Frauenrechten, denn die meisten Omanis gehören einer Art „Dissidenten-Islam“ an, den Ibaditen.  Jedes Kind geht zur Schule, und die Hälfte der Studenten sind Frauen. „Jede Studentin darf sich nach ihrem Geschmack kleiden“, empfängt mich die freundliche Presse-Sprecherin Fawzia, „Alles ist erlaubt – mit einer Ausnahme:  Die Verschleierung ist verboten, denn zu viele wurde bei Prüfungen unter dem schwarzen Tuch gemogelt.“ Weibliche und männliche Studenten sitzen bei uns im selben Hörsaal, das ist ein Fortschritt bei der sonst strengen Geschlechter-Trennung.  Männer vorne,  Mädels hinten“.

Diese Begegnung  stärkt mein eigenes Selbstbewusstsein. Bei der nächsten Einladung zum privaten coffee-morning zu Fatma, der Koran-Lehrerin,, trage ich ein  Kostüm nach westlichem Schnitt -  meine Beine sind sichtbar.  Aber Sehen scheint auch hier Sünde zu sein, selbst da, wo sich ein Frauen-Zirkel trifft.  Fast  alle tragen ihre schwarze, langen Abayas plus Kopftuch. „Eine gut sitzende Abaya  muss so lang  geschnitten sein, damit sie beim Laufen die Schritt-Spuren der Trägerin verwischt, so dass ihr kein Mann folgen kann.

Alle in bedrohlichem Schwarz. Hat ein Kloster Ausgang? Und doch findet hier Mode statt. Fast unsichtbar für mich.  Die Damen beginnen, die winzigen Unterschiede ihrer Abayas gegenseitig zu bewundern,  die kunstvollen Hohlsäume, die gestickten Blüten oder die goldenen Borten. Das alles hat mein Kostüm  nicht zu bieten. Unsicher realisiere ich, dass die Anwesenden mich taxieren, mein schlichtes Äußeres einzuordnen versuchen,  meine Beine bemerken. Irgendwann fasse ich mir ein Herz: „Warum seid Ihr hier unter uns und bei dieser Hitze so schwarz  eingepackt?“  – „Schwester, wir fühlen uns wohl. Außerdem sind wir nicht sicher,   ob vielleicht der Gärtner das Haus betritt.“

„Jede Kultur hat andere Tabus: Im islamischen Orient wird alles Leibliche schamhaft  im Haus beziehungsweise unter Hüllen versteckt, während  das Schlachten und Opfern öffentlich geschieht; im Okzident  wird das Schlachten von Tier-Leibern ins Schlachthaus verbannt, während alles Leibliche freizügig zur Schau getragen  wird...“ so hat die Wiener Künstlerin Sini Coreth die kolossalen Kultur-Unterschiede in einer ihrer verblüffenden Video-Installationen auf den Punkt gebracht.

Wenn zur Kultur eines Volkes seine Selbstdarstellung, seine bildliche Omnipräsenz, gehört, dann steckt der feminine Teil der islamischen Länder – freiwillig oder unfreiwillig - seine Intimsphäre, seine Scham sehr weiträumig ab. Viel weiter als in der Gegenwelt, der Welt des Westens:

Als Samia, die Studentin der Tourismus-Akademie des Sultanats Oman, in einem Berg-Dorf herangewachsen, vor einem Jahr bei mir in Berlin ankam, in meine vertraute, ihr jedoch unbekannte Welt eintrat, in eine Welt,  die ihre Zivilisation, ihre Art der gesitteten Bekleidung nicht anerkennt,  als minderwertig,  als Mode-Muff oder sogar als Freiheitsberaubung abtut, war sie schockiert.

Erst mit ihr zusammen  gerät der Gang durch eine mir sonst vertraute deutsche Fußgängerzone zur seelischen Tortur.  Durch ihre orientalische Optik  bemerke ich plötzlich die vielen  prallen Popos in hautengen Hosen, die knappen shirts sowie die zu kurzen skirts“. Samia kommentiert höflich: „Bei Euch läuft der menschliche Umgang über ganz andere Signale als in meiner Heimat ab.“  Erstaunlich!  Unsere „freiheitliche“ Alltagswelt ist für Samia wie ein pulsierender Porno-Poster, auf dem sich die Geschlechter inszenieren. Sie formuliert es noch deutlicher:  „Mein Gott, so viel Prostitution in Eurer Stadt – alle Frauen so leicht zu haben...“  

Das hat sie anfangs enorm verwirrt, sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert. Langsam begann ich zu ahnen, dass Samias schwarze Verhüllung für sie selbst eine doppelte Funktion hat: Nach außen geschlechtsneutralisierend, nach innen geschlechtsbetonend. „Meine korrekte Kleidung ist für mich ein Befehl Gottes. Ich will nicht durch meine Weiblichkeit wirken, sondern durch meine inneren Werte. Damit fühle ich mich geborgen und damit werde ich in meinem Dorf -  auch in der Universität - von den Männern respektiert.  Ich glaube, deshalb hat Gott diese spezielle Kleidung uns Muslimas befohlen“.  Nach und nach begriff  Samia, dass sie in Berlin nicht bei jedem unverhüllten Hals oder Kopf einer Vergewaltigung ausgesetzt ist.

Zurück in Samias Heimat: Als ich dort nach Tagen meine Reise beende und  wieder am Ausgangspunkt, also am Flugplatz, eintreffe,  befindet sich neben mir der weibliche Part  einer jemenitischen Familie. Die Herren sitzen weit abgesondert in ihren weißen Dishdashas,  darüber die typische zerbeulte Anzugjacke samt kunstvoll ziseliertem Krummdolch im Gürtel – malerische Gestalten. Sie tun so,  als hätten sie mit dem Rest der  weiblichen Verwandtschaft  in ihren beklemmenden Stoffmassen  nichts zu tun.

 „Meine Tochter Bilqis wird Zahnärztin, sie ist sehr schön“, sagt die Mutter durch ihren Gesichtsschleier hindurch und deutet neben mir auf etwas, das ein Lebewesen sein könnte.  Es befindet sich unter einem blickdichten Zelt.  -  „Wirklich?“ – „Ja, weil sie so schön ist, darf sie kein Mann sehen“. -„Aha?“   Wieder wendet sich die Mutter an mich und fragt: „Schwester, warum bist Du eigentlich nicht verhüllt? Du siehst doch gar nicht so schlecht aus?

Heidemarie Blankenstein,
 zurück aus Maskat/ Oman 2007

 Erschienen im Magazin  KULTURAUSTAUSCH  Oktober 2007




Freitag, 17. August 2007

Mitten im Leben vom Krieg umgeben - Der Hauch von Normalitaet


Regnet es in Kabul, überspülen Plastiktüten, Aas  und  Dreck die Gassen.  Das unterscheidet  Afghanistan nicht von  anderen  Ländern dieser Erde, deren Abwasser- und Abfallentsorgungen offen am Wegesrand verlaufen. An solchen Tagen haben es die alten Männer in ihren Sandalen schwer, wenn sie sich mit hoch beladenen Obstkarren in Richtung Markt abmühen. Immer wieder versinken sie in den schlammigen Fahrrillen.

Rillen, die auch unser Geländewagen zieht, in dem wir ins 30 Kilometer entfernte Bergdorf Paghman wollen.  Wir – das sind der afghanische  Fahrer Mr. Nasr, ein Beamter des afghanischen Außenministeriums, mein Mann und ich – alle völlig unbewaffnet, aber mit einem kleinen deutschen Aufkleber an der Tür, auf  einen gewissen guten deutschen Ruf in dieser Weltgegend, auch auf unsere Unauffälligkeit hoffend. Wir unterscheiden uns jedenfalls  sehr von den  ISAF (International Security Assistance Force in Afghanistan) – Spähtrupps, die Autorität und Aktivitäten der legitimen afghanischen Regierung absichern sollen. Sie hocken,  schusssicher gewappnet,  hoch oben auf  tarnfarbenen Schützenpanzerwagen  hinter  Maschinengewehren  und versuchen  wild  gestikulierend,  den  chaotischen Kabuler Verkehr auf Abstand zu halten. Das gelingt meistens nicht. Schon manchmal hat sich bei diesen Patrouillen  ein nervöser Schuss gelöst. Jetzt  muss die Bevölkerung (die zu einem hohem Prozentsatz nicht lesen kann)*  rote Warnschilder an den Militärfahrzeugen  beachten: „30 Meter Abstand halten!“
Und das in einer  pulsierenden Millionen-Stadt, die am Verkehrs-Chaos  zu ersticken droht, weil ihre Haupt-Adern  durch die monströsen Beton- und Sandsackbarrikaden  zum Schutz des ISAF-Hauptquartiers, der weitläufigen Anwesen von US-AID, der CIA  sowie der Botschaft der USA und des Präsidentenpalastes  rücksichtslos durchtrennt sind.   

Endlich erreichen wir die Ausfallstraße nach Westen.          (  * etwa 80  %)

Ernst und aufmerksam stehen  Kinder am Straßenrand und wollen Tomaten verkaufen. Wie weit mag ihr Weg sein, den sie barfuß und schwer beladen gehen müssen, bis sie zur Hauptstraße kommen? Bis hierher, wo die Autobesitzer, die Gewinner also,  flüchtig vorbeirollen. Sind wir, die Fremden, Teil ihres Sehnens? Wir halten bei einem. In wenigen Minuten sind wir umringt von zirka zwanzig kleinen Händlern. Ihre abgemagerten Körper bedecken entweder  Pyjamas, ähnlich der alten Taliban-Zwangs-Kleidung, oder verschlissene Hosen – nur von einer Schnur gehalten.
Ich sehe in Kindergesichter mit tiefen Falten um den Mund und Tränensäcken unter den Augen, und dann kaufe ich Tomatenmengen, die bis zum Jahresende ausreichen.  Sie bedanken sich überschwänglich - und schon sind wir aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Zu schnell. Die Straße steigt leicht in Richtung Gebirge, verbessert ihren Belag sogar bis zur kompletten Asphaltierung. „Wir durchqueren jetzt  zwei Stammesgebiete,“ erklärt unser afghanischer Außenamts-Beamter „deren Kommandanten, Abu Sayaf und Mullah Esat, zwar Nachbarn sind, aber keine Freunde. Auch im Jahr des Herrn 2007 und im Jahr des Propheten 1386 bekriegen sie sich, jetzt allerdings vorwiegend mit politischen Mitteln. Es geht immer um Macht, nicht um Frieden.“ Komplexe, deren innerer Zusammenhang  uns Ortsfremden kaum erkennbar ist.

Erkennbar sind plötzlich in der Ferne zwei querstehende Pkws. Versperren die etwa unseren Weg?  Unser Wagen  nähert sich vorsichtig.  Die Behinderung löst sich zwar auf, aber sie nimmt uns in die Zange: Ein Wagen fährt vor uns, der andere verfolgt uns von hinten. In jedem erkenne ich vier finstere Gestalten in Militärklamotten. Sie halten  Kalaschnikoffs  zwischen den Knien. „Das war’s dann wohl“, denke ich, während sich unser afghanischer Freund fürsorglich nach meiner Angst erkundigt.  Eine Angst, die über diese Straße heranrollt, zielgerichtet bei mir ankommt und sich ganz dicht an meinen Nerven festsetzt.
Entführung hier und jetzt? Und dann noch selbst verschuldet? Nach der Entführung dreier Deutscher und dem traurigen Tod dreier deutscher Polizisten dürfen sich Botschaftsmitarbeiter, auch Militärs nur unter Einhaltung strengster – fast selbstquälerischer-  Sicherheitsregeln aus ihren Festungen herauswagen. Wir haben das ignoriert.

„Die Menschen sehen in dieser Gegend alle so aus“, höre ich den Freund  aufmunternd sagen. Misstrauisch beobachte ich unsere Eskorte.
In Paghman angekommen, parkt die einfach vor einem Tor. Wollten diese acht Afghanen wirklich nur an diesem Nachmittag bei ihrer Verwandtschaft bewaffnet Tee trinken?
Sollte auch  mir -  bei der allgemeinen  aufgeregten Fokussierung auf Afghanistan -  jegliches  Augenmaß  verloren gegangen sein? Kommt es nicht rund um den Globus  täglich zu Kriminalität? Da wird zur Durchsetzung sozialer oder politischer Anliegen gemordet und  erpresst -  nicht nur am Hindukusch. 

 Sieben Jahre hatten die Russen versucht, Paghman, das Paradies Afghanistans, einzunehmen. Während der Fahrer den Vierradwagen weiter hinauf  in die Berge quält, schwärmt unser Begleiter:  „Diese Gegend hier war voller blühender Gärten und fruchtbarer Felder. Sie war die exquisite Sommerfrische der Hauptstädter“. Meine Angst löst sich in Staunen auf: Ich höre einen rauschenden Bach, das Geklapper von Teegeschirr, ich schnuppere Bergluft, vermischt mit gegrilltem Kebab und sehe ringsherum Männer, die anstelle von Waffen  dicke Lavendelsträuße tragen. Unter schattigen Bäumen liegen Teppiche und  Polster, die zum Verweilen einladen.

Wir verweilen nicht lange. Unsere Fahrt geht weiter zum Kargha Stausee. Wieder erreichen wir ein ehemals stark umkämpftes Gebiet, geschundenes Land, - ich meine zu träumen -  in einen Golfplatz verwandelt. Seine Greens bestehen aus ölgetränktem Sand, während der gesamte Platz  ein Gemisch aus Gestrüpp und Geröll ist, aber – wie uns versichert wird – von  Minen geräumt.  Also wagen wir einige Abschläge und schauen uns im „Golf-Club“ um. Wir spüren einen  Hauch von Normalität, der unserem Afghanistan-Bild aus einem Gebirge von Gefahr und Trostlosigkeit  nicht ganz entspricht.

Es dämmert, aber immer noch  fahren über den riesigen See  Motor- und Tretboote gemächlich dahin. Manche Männer baden oder angeln sogar. Eine beschauliche Stimmung. Keine Sandsackbarrikade versperrt den Blick. Als wir zu frischem Kebab und duftendem Fladenbrot eingeladen werden, platziert der freundliche Kellner etwas Geheimnisvolles,  in einer schwarzen Plastiktüte versteckt,  mitten auf unseren Tisch. Neugierig packen wir aus: Wieder so eine Fatahmorgana in einem islamischen, alkoholfreien Land: Echtes Heineken Bier!  Hier am leise plätschernden Kargha See, mitten im Gebiet des strengen Kommandanten  Mullah Esat scheinen  uns für Stunden die Probleme dieser Welt ganz weit weg.

 „Kommt Ihr am Freitag mit in mein Pandschir-Tal?“  fragt uns der Pandschabi Mr. Saband. Seinen Kopf schützt eine runde Pandschabi- Filzmütze. Über dem langen Leinen-Hemd und den Pluderhosen trägt er ein westliches Jackett, in dem ein mobiles Telefon steckt. Er ist der Hausangestellte unseres  treuen afghanischen Außenamts-Beamten und scheinbar ein  gefragter Mann. Sein Telefon klingelt unaufhörlich, als wir Kabul in Richtung Kundus verlassen. Rund 200 Kilometer sind es bis zum heutigen Ziel.  

Hoch über der Straße ein  Banner: „Unsere Polizei ist der Lichtblick der Stadt“, liest mein Mann vor und freut sich. Ist es doch eine Anerkennung seiner Arbeit als Deutscher Sonderbotschafter.   Seine Aufgabe war es, die internationale Unterstützung für den Aufbau einer neuen afghanischen Polizei richtig einzusetzen. Denn Grenz-, Verkehrs-, Kriminalpolizei  kosten den afghanischen  Innenminister gar nichts.  Sie werden einzig und allein  von ausländischen Steuerzahlern finanziert und ausgebildet, allen voran Deutschland. Doch nur 40 deutsche Polizisten mit Englischkenntnissen waren freiwillig bereit,  am Hindukusch  Polizei-Offiziere auszubilden.  Zu wenig! Also hat die deutsche Regierung ihre  Ausbildungsverpflichtung in europäische Verantwortung übergeben, an die neue Mission EUPOL-Afghanistan, auf mehr Freiwillige Ausbilder hoffend.   Über „zu wenig“ wird auch bei der Entlohnung geklagt. 70 Dollar Lohn  (für jeden der  62.000 Polizisten im ganzen Land)  monatlich für einen riskanten Job: Selbstmordattentäter hatten am 17. Juni 2007  eine Bombe in einen Polizeibus geworfen – 35 Opfer. Im selben Monat  hatten US-Soldaten bei einem ihrer Anti-Terror-Einsätze in Nangarhar versehentlich sieben afghanische Polizisten  erschossen. Riskant und wenig bezahlt. „Die Taliban bieten mir 250 Dollar  monatlich, ich habe eine große Familie, allein  ein Sack Reis kostet mich 60 Dollar. Das zwingt mich meinen Polizisten-Lohn  irgendwie  aufzubessern,“ erklärt uns ein  Verkehrspolizist  aus der Provinzhauptstadt Charikar.

Noch lange bevor wir Charikar erreicht hatten, kamen wir durch grauenvoll zerstörte Dörfer.  Den Menschen blieb nur die Flucht:  Sechs Millionen nach Pakistan;  zwei Millionen in den Iran.  Wem die Flucht nicht gelungen war,  wurde Opfer der machthungrigen Stammesführer,  die sich von den gegenüberliegenden Gipfeln – nachdem die Russen besiegt waren -  bombardierten und dabei die gesamte dichtbesiedelte Kabuler Hochebene in Schutt und Asche legten. Afghanen gegen Afghanen. Einer von ihnen war der „Löwe des Pandschir-Tals“, General Massoud.  Sein Beiname resultiert aus der erbitterten Verteidigung seines schönen Pandschir-Tals gegen russische Eindringlinge und später auch gegen die paschtunischen Taliban.

Welch ein Zauber über diesem fruchtbaren Tal! Verständlich, dass es einst zum „Hippie-trail“ gehörte. Hierher kamen Jugendliche aus dem Westen wegen der grandiosen Natur, wegen des wilden Lebensstils und wegen des besten Haschischs der Welt. Sie wurden zu Kolonialisten  - auch zu Geldbringern, aber zu würdelosen.  Erst die Invasion der Sowjetunion 1979 beendete diese Art des touristischen Treibens. Doch  Afghanistans wichtigste Einnahmequelle versiegte. Einsam donnert heute der unbändige Pandschir-Fluss durch die hochaufragenden Felswände. Märtyrergräber,  mit grünen Fahnen geschmückt, säumen unseren Weg.

An den unwahrscheinlichsten Stellen, sogar mitten im klaren Wasser des Flusses,  liegen ausgebrannte Panzer. Manch  ausgebombtes  Militärfahrzeug dient jetzt als Kiosk. Ein einzelner Bauer geht vor einem Pflug her. Mitten auf seinem Acker liegt ein verrosteter Panzer. Er bewegt sich vorsichtig um das Wrack herum. Am Straßenrand laufen Kinder mit Brennholz und Frauen mit Wassereimern. Sie meiden die Gräben, in denen noch Minen liegen könnten. Im und am  Fluss gehen  die modernen afghanischen Familienväter ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: Sie waschen sorglos ihr Auto. Wieder spüre ich  diesen Hauch der Normalität.  

Unser Mitfahrer, der Pandschabi Mr. Saband, ist in diesem Tal zu Hause. Bevor er uns in sein Haus einlädt, führt er uns feierlich  auf eine Anhöhe zum Grabmal von General Massoud, dem Held der Tadschiken.  Er zeigt es uns wie ein Heiligtum: „Fremde Eroberer haben gegen uns  keine Chance. Wir haben sie bisher  alle besiegt.“ Dieser Satz verfolgt mich lange. 55 verschiedene und stolze Ethnien beherrschen Afghanistan.  Wo ist der Faden, der aus diesem Macht- Labyrinth herausführt? Wer kann der jetzigen Regierung das Gewaltmonopol sichern? Fremde Truppen etwa?  

Das Haus seiner Familie liegt hoch am Hang und verbreitet  Ferienstimmung. Nach der steinigen Kletterpartie sind wir froh, auf den bunten Kissen des Salons ausruhen zu dürfen. Frische Bergluft weht durch die weißen Spitzengardinen.  „Alles war bis auf die Grundmauern zerstört“, berichtet der Hausherr. Die Großfamilie ist versammelt: Brüder, Neffen -  sogar die Hausfrau – unverschleiert - erscheint:  „Bis vor einem Jahr  war unsere gesamte Familie mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Das war auch gut so, denn das lenkte uns ein wenig von unserem Kummer ab: Unsere beiden Söhne sind für General Massoud gestorben“. Beim Namen Massoud liegt ein gewisser Stolz in ihrer Stimme.  Aufrecht steht sie mitten im Raum und beginnt über die ungerechten, radikalen Taliban-Jahre zu klagen.  Dann  breitet sie eine Plastikfolie  über den Perser, schleppt Tabletts mit Reis, Fleisch, Gemüse, Salat, Brot und sogar Coca Cola herbei.  Aus einer Ecke  dudelt  ein Fernseher ein indisches Musik- und Tanzprogramm -  das gehört  wohl zum modernen afghanischen Leben.

Unsere Gastgeber werden gleich bei einer Hochzeit erwartet. Wir könnten gern mitkommen. Da wir vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Kabul sein wollen, müssen wir das gastfreundliche Angebot ablehnen. Dann verabschieden wir uns, lassen  sie  mit ihrer Erinnerung an  Zeiten von Invasionen und Einmischungen allein.

Hoffnung liegt gleich am Kabuler Stadtrand, den wir abends von Norden her erreichen. Neuerrichtete  glitzernde „Hochzeits-Paläste“ bieten – Frauen und Männer in getrennten Sälen -  Platz fürs Feiern.  Ebenso wurden Trauerhäuser errichtet, wo Trauernde – Frauen und Männer getrennt – Kondolenzgäste bewirten können,  wenn ihr eigener Wohnraum zu klein ist.

Zu klein ist es fast überall im Nachkriegs-Kabul. Die Rückkehrer aus den Flüchtlingslagern in Pakistan und Iran finden kaum eine Unterkunft.  Aus Not wurden rostige Container in Wohnungen oder Läden umfunktioniert. Aus ihnen werden Trauben, Melonen, Kartoffeln,  Zwiebeln, kleine Bananen, Walnüsse oder blutende Schlachter-Ware feilgeboten.

Kabul ist also kein perspektivloser Flecken. Nicht nur Zerstörung und Leid  bestimmen seine Architektur: Da erstreckt sich zum Beispiel gleich neben dem „Landmark“-Hotel  ein glanzvolles Einkaufszentrum aus Marmor, Glas und eleganten Treppen. Angeboten werden elektronische Geräte und regionale Mode.
Wieder umweht mich ein Hauch von Normalität.

Unsere eigene bescheidene Herberge steht an einer der belebten Verkehrsadern  Kabuls.  Morgens um Sieben erreiche ich - nach lebensbedrohlicher Querung - die Backstube gegenüber. Ampeln oder Zebrastreifen? Gibt es noch nicht. Durch den Schleier der Abgase steigt mir der Duft des  frischen Brotes  in die Nase. Acht Bäcker hocken teigknetend Tag und Nacht wie Zarathustras Söhne über einem Feuerloch. Ich blicke in den heißen Abgrund und sehe Brotfladen. Auf einer Stein-Empore in dieser niedrigen Hütte scheinen  sich die Bäcker abwechselnd  auszuruhen.  Ihre Hemden sind  fadenscheinig, Ihr Lachen ist überzeugend.

Hat diese Szene auch etwas Pittoreskes,  täuscht sie doch nicht darüber hinweg, dass es zurück zur „Schweiz Asiens“, wie das Land vor 80 Jahren von König Aman Ullah  genannt wurde, noch ein langer, heißer Weg sein könnte.

Sonntag, 1. Juli 2007

Minen im Zaubertal


Hartmut Blankenstein ist Deutscher Sonderbotschafter für die Polizeireform. Auf Reisen spüren er und seine Frau der Normalität des kriegsbedrohten Alltags nach

Regnet es in Kabul, überspülen Plastiktüten, Aas und Dreck die Gassen. Abwasser- und Abfallentsorgungen
verlaufen offen am Wegesrand. Dann haben es die alten Männer in ihren Sandalen schwer, wenn sie sich mit hoch beladenen Obstkarren in Richtung Markt abmühen. Immer wieder versinken sie in den schlammigen Fahrrillen. Rillen, die auch unser Geländewagen zieht, mit dem wir ins 30 Kilometer entfernte Bergdorf Paghman wollen. Am Steuer der afghanische Fahrer, Mohammed Nasir. Als landeskundiger Begleiter der Pandschabi Mr. Saband vom afghanischen Außenministerium. Wir fahren unbewaffnet und hoffen auf den guten deutschen Ruf in dieser Gegend, auch auf unsere Unauffälligkeit. Jedenfalls unterscheiden wir uns sehr
von der Isaf (International Security Assistance Force in Afghanistan), jenen Spähtrupps, die Autorität und Aktivitäten der legitimen afghanischen Regierung absichern sollen. Sie hocken hoch oben auf tarnfarbenen Schützenpanzerwagen hinter Maschinengewehren und versuchen wild gestikulierend, den chaotischen Kabuler
Verkehr auf Abstand zu halten. Das gelingt meistens nicht. Es kam vor, dass sich bei diesen Patrouillen ein nervöser Schuss gelöst hat. Jetzt muss die Bevölkerung – vier von fünf können nicht lesen – rote Warnschilder an den Militärfahrzeugen beachten: „30 Meter Abstand halten!“ Und das in einer pulsierenden Millionenstadt,
die am Verkehrschaos zu ersticken droht, weil ihre Hauptadern durch die monströsen Beton- und Sandsackbarrikaden rücksichtslos durchtrennt sind: zum Schutz des Isaf-Hauptquartiers, der weitläufigen Anwesen von USAid, der CIA sowie der Botschaft der USA und des Präsidentenpalastes. Endlich erreichen wir die Ausfallstraße nach Westen. Ernst und aufmerksam stehen Kinder am Straßenrand und wollen Tomaten verkaufen. Ihre abgemagerten Körper bedecken Pyjamas, ähnlich der alten Taliban-wangskleidung, oder verschlissene Hosen, nur von einer Schnur gehalten. Wir blicken in Kindergesichter mit tiefen Falten um den Mund und Tränensäcken unter den Augen, und dann kaufen wir Tomatenmengen, die bis zum Jahresende reichen. Sie bedanken sich überschwänglich.

Aufs Gebirge zu. „Wir durchqueren jetzt zwei Stammesgebiete“, erklärt unser afghanischer außenamtsbeamter. „Deren Kommandanten, Abu Sayaf und Mullah Esat, sind zwar Nachbarn, aber keine Freunde. Auch im Jahr des Herrn 2007 und im Jahr des Propheten 1386 bekriegen sie sich, jetzt vorwiegend
mit politischen Mitteln. Es geht immer um Macht, nicht um Frieden.“ Komplexe, die für uns nicht durchschaubar sind. Erkennbar sind plötzlich zwei quer stehende Pkws. Versperren die etwa unseren Weg? Wir nähern uns vorsichtig. Die Behinderung löst sich zwar auf, aber die Autos nehmen uns in die Zange: Ein
Wagen fährt vor, der andere verfolgt uns. In jedem erkennen wir vier finstere Gestalten in Militärklamotten, Kalaschnikows zwischen den Knien. Leise äußert sich Furcht: „Das war’s dann wohl . . .“ Entführung hier und jetzt? Und dann noch selbst verschuldet? Nach der Entführung dreier Deutscher und dem Tod dreier deutscher Polizisten dürfen sich Botschaftsmitarbeiter, auch Militärs, nur unter Einhaltung strengster Sicherheitsregeln aus ihren Festungen herauswagen.

Wir haben das ignoriert. „Die Menschen sehen in dieser Gegend alle so aus“, sagt der Freund aufmunternd. Misstrauisch beobachten wir unsere Eskorte. Die parkt in Paghman vor einem Tor. Wollten diese
acht Afghanen wirklich nur bei der Verwandtschaft Tee trinken – bewaffnet? Sollte uns bei der allgemeinen aufgeregten Fokussierung auf Afghanistan jegliches Augenmaß verloren gegangen sein? Sieben Jahre hatten die Russen versucht, Paghman, das Paradies Afghanistans, einzunehmen. Während der Fahrer den geländegängigen Wagen weiter hinauf in die Berge quält, schwärmt unser Begleiter: „Diese Gegend war voller blühender Gärten und fruchtbarer Felder. Die exquisite Sommerfrische der Hauptstädter.“ Meine Furcht löst sich in Staunen auf: Wir hören einen rauschenden Bach, das Geklapper von Teegeschirr, schnuppern Bergluft vermischt mit gegrilltem Kebab und sehen ringsherum Männer, die anstelle von Waffen dicke Lavendelsträuße
tragen. Unter schattigen Bäumen liegen Teppiche und Polster, die zum Verweilen einladen.

Doch weiter zum Kargha-Stausee. Wieder erreichen wir ein ehemals stark umkämpftes Gebiet, geschundenes Land – in einen Golfplatz verwandelt. Seine Greens bestehen aus ölgetränktem Sand, während der gesamte Platz ein Gemisch aus Gestrüpp und Geröll ist, aber, wie uns versichert wird, von Minen geräumt. Also wagen wir einige Abschläge und schauen uns im Golf-Club um. Wir spüren einen Hauch von Normalität, der unserem Afghanistan-Bild aus einem Gebirge von Gefahr und Trostlosigkeit nicht ganz entspricht.

Es dämmert; immer noch fahren über den riesigen See Motor- und Tretboote gemächlich dahin. Manche Männer baden oder angeln. Keine Sandsackbarrikade wie in Kabul versperrt den Blick. Als wir zu frischem Kebab und duftendem Fladenbrot eingeladen werden, stellt der Kellner eine schwarze Plastiktüte auf den Tisch. Wir packen drei Dosen aus: Wieder so eine Fata Morgana in einem islamischen, alkoholfreien Land: echtes Heineken-Bier! Hier am leise plätschernden Kargha-See, mitten im Gebiet des strengen Kommandanten Mullah Esat, scheinen uns alle Probleme ganz weit weg. Ein neuer Tag, ein neues Ziel. „Kommt ihr mit in mein Pandschir-Tal?“, fragt Mr. Saband. Seinen Kopf schützt eine runde Pandschabi-Filzmütze. Über Leinenhemd und Pluderhosen trägt er ein westliches Jackett, in dem ein Mobiltelefon steckt, das unaufhörlich klingelt, als wir Kabul in Richtung Kundus verlassen. Über der Straße ein Banner: „Unsere
Polizei ist der Lichtblick der Stadt!“ Noch lange bevor wir die bunte und malerische Provinzhauptstadt Charikar erreichen, kommen wir durch grauenvoll zerstörte Dörfer. Den Menschen blieb nur die Flucht: sechs Millionen nach Pakistan, zwei Millionen in den Iran. Wem die Flucht nicht gelungen war, der wurde Opfer der machthungrigen Stammesführer, die sich von den gegenüberliegenden Gipfeln bombardierten und die dicht besiedelte Kabuler Hochebene in Schutt und Asche legten, nachdem die Russen besiegt waren. Afghanen gegen Afghanen. Einer von ihnen war der „Löwe des Pandschir-Tals“, General Massoud. Sein Beiname resultiert aus der erbitterten Verteidigung seines schönen Pandschir- Tals gegen russische Eindringlinge und
später gegen die paschtunischen Taliban. Welch Zauber über diesem fruchtbaren Tal! Verständlich, dass es einst zum „Hippie-Trail“ gehörte. Hierher kamen Jugendliche aus dem Westen wegen der grandiosen Natur, des wilden Lebensstils und des besten Haschisch der Welt. Sie wurden zu Kolonialisten, auch zu Geldbringern, aber zu würdelosen. Erst die Invasion der Sowjetunion 1979 beendete diese Art des touristischen Treibens. Doch Afghanistans wichtigste Einnahmequelle versiegte.

Einsam donnert heute der unbändige Pandschir-Fluss durch die hoch aufragenden Felswände. Märtyrergräber, mit grünen Fahnen geschmückt, am Wege. Überall, sogar mitten im klaren Flusswasser, liegen ausgebrannte Panzer. Manch ausgebombtes Militärfahrzeug dient als Kiosk. Ein Bauer geht hinter seinem Pflug her. Mitten auf seinem Acker ein verrosteter Panzer. Der Bauer pflügt vorsichtig um das Wrack herum. Am Straßenrand laufen Kinder mit Brennholz und Frauen mit Wassereimern. Sie meiden die Gräben, in denen noch Minen liegen könnten. Im und am Fluss gehen die modernen afghanischen Familienväter ihrer
Lieblingsbeschäftigung nach: Sie waschen sorglos ihr Auto.

Mr. Saband ist in diesem Tal zu Hause. Bevor er uns in sein Haus einlädt, führt er uns feierlich auf eine Anhöhe zum Grabmal von General Massoud, dem Helden der Tadschiken. Er führt es vor wie ein
Heiligtum: „Fremde Eroberer haben gegen uns keine Chance. Wir haben sie alle besiegt.“ 55 verschiedene stolze Ethnien beherrschen Afghanistan. Wo ist der Faden, der aus diesem Machtlabyrinth herausführt? Wer kann der jetzigen Regierung das Gewaltmonopol sichern? Fremd Truppen etwa?

Das Haus seiner Familie liegt hoch am Hang und verbreitet Ferienstimmung. Nach der steinigen Kletterpartie sind wir froh, auf den bunten Kissen des Salons ausruhen zu dürfen. Frische Bergluft weht durch die weißen
Spitzengardinen. „Alles war bis auf die Grundmauern zerstört“, berichtet der Hausherr. Die Großfamilie ist versammelt: Brüder, Neffen – sogar die Hausfrau, unverschleiert. „Bis vor einem Jahr war unsere gesamte Familie mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Das hat uns von unserem Kummer abgelenkt, denn unsere beiden Söhne sind für General Massoud gestorben.“ Beim Namen Massoud liegt ein gewisser Stolz in ihrer Stimme. Sie steht mitten im Raum und klagt über die ungerechten, radikalen Talibanjahre. Dann breitet sie eine Plastikfolie über den Perserteppich, schleppt Tabletts mit Reis, Fleisch, Gemüse, Salat, Brot und sogar Coca-Cola herbei. Aus einer Ecke dudelt ein Fernseher ein indisches Musik- und Tanzprogramm ab. Hoffnung liegt gleich am Kabuler Stadtrand. Neu errichtete glitzernde „Hochzeitspaläste“ bieten Platz zum Feiern, Frauen und Männer in getrennten Sälen. Ebenso wurden Trauerhäuser errichtet, wo Trauernde Kondolenzgäste
bewirten können, wenn ihr eigener Wohnraum zu klein ist.

Zu klein ist es fast überall im Nachkriegskabul. Die Rückkehrer aus den Flüchtlingslagern in Pakistan und im Iran finden kaum eine Unterkunft. Aus Not wurden rostige Container in Wohnungen oder Läden umfunktioniert. Daraus werden Trauben, Melonen, Kartoffeln, Zwiebeln, kleine Bananen, Walnüsse oder blutige Schlachterware feilgeboten. Kabul ist also kein perspektivloser Flecken. Nicht nur Zerstörung und Leid bestimmen seine Architektur: Da erstreckt sich gleich neben dem „Landmark“-Hotel ein glanzvolles Einkaufszentrum aus Marmor, Glas und eleganten Treppen. Angeboten werden elektronische Geräte und regionale Mode. Unsere bescheidene Herberge steht an einer belebten Verkehrsader. Morgens um sieben schlage ich mich durch dichten Verkehr zur Backstube gegenüber. Ampeln oder Zebrastreifen? Gibt es noch nicht. Durch Abgasschleier steigt mir der Duft frischen Brotes in die Nase. Acht Bäcker hocken
teigknetend Tag und Nacht wie Zarathustras Söhne über einem Feuerloch. Über dem heißen Abgrund Brotfladen. Hat diese Szene auch etwas Pittoreskes, so täuscht sie nicht über eines hinweg: Zurück zur „Schweiz Asiens“, wie das Land vor 80 Jahren von König Aman - ullah genannt wurde, ist es noch ein langer,
heißer Weg.

Samstag, 19. Mai 2007

Buchrezension zu: „Partner, nicht Gegner – für eine andere Iran-Politik“


Kollektive Verirrung?

Buchrezension zu: „Partner, nicht Gegner – für eine andere Iran-Politik“
Ein Standpunkt von Christoph Bertram, herausgegeben von Roger de Weck,
Edition: Körber-Stiftung, 87 Seiten, 10,-- Euro, erschienen am 19. 5. 08
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Manchen Büchern wünscht man sich, sie mögen die Mächtigen dieser Welt erleuchten,  doch wahrscheinlich wird dieser kleine Band nur eine heftige Kontroverse hervorrufen.
Seit US-Präsident Bush Iran zur „Achse des Bösen“ zählt, haben sich die westlichen Medien bequem auf der Verteufelungs-Schiene eingerichtet: „Wenn der Iran nicht einlenkt, gibt es unweigerlich Krieg“ schrieb sogar DIE ZEIT  in ihrer Ausgabe 35/2006.

Christoph Bertram, bis 2005 Direktor der SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik),  auch  bekannt als ZEIT-Autor, überraschte gestern in der  Europäischen Akademie Berlin-Grunewald durch andere Aspekte, die er in seinem nüchternen Essay  zusammenfasste:  

Anstelle von Regime-Verteufelung müsste Anerkennung dieses wichtigen Landes stehen, statt Konfrontation das Angebot zur Zusammenarbeit, statt Beschuldigung und Sanktionen der Dialog, statt Vorbedingungen Verhandlungen. Der Westen verfolge zur Zeit eine Iran-Politik, die keine sei, der offenbar eine kollektive Verirrung zugrunde liege.  Gegnerschaft durch Partnerschaft zu ersetzen und das riesige Sanktions-Paket von 1979 endlich aufzuschnüren, hält Bertram für die besseren Ideen.  

Die israelischen Freunde, die sich durch Präsident Achmadinedschads Äusserung vom Verschwinden  Israels „aus den Annalen der Geschichte“ besonders bedroht fühlten, munterte Bertram zu mehr Gelassenheit auf. Er verwies auf das Jahr 1958, als der UdSSR-Machthaber Chruschtschow mit der „sowjetischen Weltrevolution“ drohte und dem Westen zurief: „Wir werden Euch alle beerdigen“. Solchen  Übertreibungen – so Bertram – könne man nur mit de Gaulles „Détente, Entente et Coopération“ erfolgreich begegnen. Der Verlauf der jüngsten Geschichte hätte de Gaulle recht gegeben.

Für viele im Westen würde eine derart nüchterne Haltung dem Iran gegenüber einer Kapitulation gleichkommen, zumindest einer unverdienten einseitigen Vorleistung.

Der Autor erinnert demgegenüber an die Vorleistungen der damaligen Regierung des Iran, die im Jahr 2003 bereit war, Israel als Staat anzuerkennen, Hamas und Hisbollah nicht mehr zu unterstützen, allen IAEA-Inspekteuren Zutritt zu gewähren, und lediglich ihr (ziviles) Nuklear-Programm fortsetzen wollte. Das militärische Programm sollte eingestellt werden.  Die Bush-Regierung fegte dieses Schreiben, damals übermittelt durch die Botschaft der Schweiz, vom Tisch. Obwohl der Iran vor fünf  Jahren zu fast allem bereit gewesen sei, habe er dafür keine Gegenleistung aus dem Westen erhalten, nicht einmal Respekt.  

So habe die gesamte westliche Iran-Strategie bis heute allseits nur negative Resultate, dagegen sei der Einfluss des Iran in der Region gewachsen.

Während  aus Teheran schallende Selbstbehauptungstöne zu hören sind und der Westen dröhnendes Kriegsgebaren zeigt, argumentiert Christoph Bertram nicht mit der Pauke, sondern kommt differenziert der Wahrheit näher als die meisten anderen  Analysten. Bertram sollte ernst genommen werden.

Heidemarie Blankenstein
Berlin, 19. 5. 2008