Donnerstag, 15. Juli 2004

Die Forschung und der Orient

Unsere Wissenschaften sind westlich ausgerichtet. Deshalb werden fruchtbare Impulse wie die frühen arabischen Erfindungen oft verdrängt. Eine Ausstellung rückt das Bild zurecht.

Stehen die Wissenschaften nur in der Tradition des Abendlandes, des Westens? Nein. Viele wissen, dass neben den Griechen, Ägyptern und Römern auch die Chinesen schon sehr früh viel wussten und erfanden. Weitere, ebenso ferne wie wichtige Einflüsse kamen aus Arabien. Vor langer Zeit war es üblich, Texte aus dem Arabischen ins Lateinische zu übersetzen; sie waren es wert, zu uns zu kommen.

Arabien! Mit diesem Wort verbinden wir in der Regel bestimmte Bilder, oft böse Bilder. Kein Wunder, denn aus jenen Regionen werden wir täglich mit Nachrichten zu Terror, Tod und Teufel überschwemmt. Daneben aber besteht ein zweites Bild, eins von Märchen, betörenden Düften, bauchtanzenden Haremsdamen – ein Gemälde aus Lust und Sinnlichkeit. Als Wiege der Wissenschaften konnten wir Abendländer jenen Teil des Globus nie einordnen. Er kam in der Schule kaum vor.

Wer jemals den Blickwinkel ändern konnte, wird erstaunt festgestellt haben, dass in der arabischen Welt das Vergangene realer als die Gegenwart ist. Als läge den Menschen ein aus uralter Erfahrung geprägtes Wissen im Blut, das ihnen besondere Würde und Gelassenheit schenkt. Unser Arabien-Bild erweist sich bei genauem Hinsehen als Verzerrung. Die Chance zu einer nachhaltigen Korrektur bietet die vom Französischen Wissenschaftszentrum in Orléans erarbeitete Ausstellung „Wenn Wissenschaft Arabisch spricht“. Nach Stationen in Ägypten und Bahrein wurde sie in Maskat, der Hauptstadt des Oman, gezeigt und wandert jetzt über den Jemen, den Libanon, Jordanien und Israel in viele andere Staaten weiter. Ende 2005 könnte sie auch nach Berlin kommen.

Pioniere der Augenheilkunde
Es war nicht nur die Lehre von der Optik, die die Araber im 8. bis 15. Jahrhundert vertieften. Damals reisten die Gelehrten von Bagdad bis Samarkand, von Granada bis Kairo, von Damaskus bis Indien. Ihre Sprache war Arabisch. Den Weg der Strahlen hatte zwar der berühmteste Mathematiker der Antike, Euklid (300 vor Christus), geometrisiert, auch Ptolemäus von Alexandria konnte 150 nach Christus Strahlen präzise messen, aber das Licht selbst hatte noch nicht ihre Aufmerksamkeit erweckt. Arabische Mathematiker wie Ibn al-Banna, Ibn al-Haim, al-Karaji oder Umar al-Khayyam übersetzten die antiken Thesen der Optik und erweiterten sie.
Al-Kindi und Ibn al-Haytham vermuteten, dass Licht eine eigene existenzielle Größe sei. Sie entdeckten 900 nach Christus den Brennspiegel als Lichtkörper. Reflexionsgesetze werden in Ibn al-Haythams „Buch der Optik“ so formuliert: „Sehen entsteht, wenn Strahlen des Objekts auf ein Auge fallen, sich auf der Netzhaut brechen. Dort entsteht ein Bild, welches dem des Objekts entspricht.“ In der Augenheilkunde waren die Araber Pioniere. Systematisch haben alle arabischen Forscher ihre Erkenntnisse aufgezeichnet und als Enzyklopädien herausgegeben. Europa profitiert heute noch davon. Constantinus Africanus, dem Arzt aus Karthago, gelang es Ende des 11. Jahrhunderts, viele medizinische Werke nach Sizilien zu bringen. Mit diesem Wissen wurde Salerno die erste und lange Zeit bedeutendste medizinische Fakultät Europas. Alexander von Humboldt schrieb einmal: „Die Apothekerkunst ist von den Arabern geschaffen. Die ersten Vorschriften über Bereitung der Arzneimittel sind von ihnen ausgegangen und wurden durch die Schule von Salerno in Europa verbreitet.“

Die Pharmazie war schon im 13. Jahrhundert so umfangreich, dass der Botaniker Ibn al-Baitar aus Málaga mehr als 1400 pflanzliche Rezepturen und Mittel anzuwenden wusste. Apotheken sicherten die Versorgung aller Einheimischen. In Europa waren arabische Elixiere nur reichen Patriziern zugänglich. Neben Heilkräutern wie Weihrauch wurden Gewürze, Mineralien und Seide zu Exportschlagern.
Während es im mittelalterlichen Europa aus religiösen Motiven ehrenrührig war, einen menschlichen Körper zu öffnen, versuchten arabische Ärzte Luftröhrenschnitte unter kontrollierter Narkose. Ihre Zahnmedizin, ihre Therapien von Hautkrankheiten waren europäischem Wissen um Jahrhunderte voraus. Als Erster hatte der 1288 geborene Ägypter Ibn al-Nahfis den kleinen Blutkreislauf entdeckt. In Europa gelang das dem Engländer William Harvey erst 1628. Vorschläge, wie Pocken und Masern zu behandeln sind, gab um 900 der in Persien geborene Abu Bakr al-Razi. Und ein Leibarzt des Sultans Saladin gab zeitlose Wellness-Tipps. Er rät zu „Mäßigung in allem“ und weiß: „Medikamente unterstützen den Körper nur, damit er sein Gleichgewicht wieder erlange.“
Durch den Handel mit Europa – der religiöse Zwist rückte in den Hintergrund – war Arabien zu schriftlichem Rechnen, zu Algebra und Geometrie, zum Wiegen und Messen gezwungen. Man dachte über Sinus, Tangens und spezifische Gewichte nach. Erste Präzisionswaagen entstanden im 9. Jahrhundert. Zur gleichen Zeit verfasste Mohammed Ibn Musa al-Hworithmi eine Dezimal-Aufgabensammlung für Händler und Notare. Nach ihm wurde der Algorithmus benannt. Im 13. Jahrhundert merkten die Europäer, dass die römischen Ziffern ziemlich unpraktisch waren und ersetzten sie durch die arabischen; die sind jedoch ein Import aus Indien.
Eng verbunden mit der Mathematik war die Astronomie. Erkenntnisse arabischer Gelehrter dienten der Astrologie, dem Festlegen der Gebetszeit mithilfe von Sand- und Sonnenuhren, der Ausrichtung nach Mekka und der Wahrnehmung des Neumondes. Das war wichtig, denn in der moslemischen Welt basiert der Kalender auf Mondphasen.

All jene Wissenschaftler behaupteten schon im 11. Jahrhundert, dass die Erde eine Kugel sei. Ihre Winkelmesser, Quadranten, Sextanten und das Astrolabium zur Bestimmung des Standes der Gestirne übernahm das spätere Europa gern. Doch erst Kopernikus und Galilei setzten für den Kontinent das heliozentrische gegen das geozentrische Denken durch. Sehr früh finden sich in Arabien Arbeiten zu Ebbe und Flut, Morgenröte, Dämmerung, Regenbogen, Mondhof und den Bewegungen von Sonne und Mond.
Araber waren unterwegs zwischen Himmel und Erde: Bis ins ferne China reiste Ibn Battuta im 13. Jahrhundert vom Maghreb aus über Indien, die Reise währte 29 Jahre. Er studierte Flora und Fauna, Religionen und Sitten. Der berühmteste Reisende zuvor war Sindbad der Seefahrer, der Held aus „Tausendundeiner Nacht“, der um 900 von Oman aus seine abenteuerlichen Reisen angetreten haben soll.
Die damalige Welt war aber nicht nur in Bewegung, sie siedelte auch. Exzellente Zeugnisse arabischer Baukunst finden sich von Alexandria über Basra bis Samarkand. Bagdad, 762 als Hauptstadt des abbassidischen Kalifats prächtig ausgebaut, galt architektonisch als die ideale Stadt und als Hochburg der Gelehrsamkeit. 786 eröffnete der mächtige Harun al-Raschid dort das erste Hospital. Bald hatte jede islamische Stadt eines. Alle wurden behandelt, ungeachtet ihrer Herkunft und Religion. Und es gab eine ärztliche Ausbildung.
Der Koran verspricht den Gläubigen den Garten des Paradieses. Von daher mag die Stärke der Araber in Bodenkultivierung und Landschaftsgestaltung, in der Bewässerung und dem Einführen von Zuckerrohr, Granatapfel, Aprikose und Pfirsich rühren. Wassertechnik beschäftigte den Orient wie den Okzident. Die hängenden Gärten von Babylon gehörten zu den sieben Weltwundern.

Zur fortschrittlichen und kultivierten Lebenswelt jener Regionen zählten Musik und Poesie. Gitarre, Mandoline und Laute stammen aus dem mittelalterlichen Kulturexport. Die über Nordafrika und Spanien bis nach Frankreich vordringenden Lieder der Troubadoure beeinflussten die mittelhochdeutsche Minne. Nicht zu vergessen die orientalischen Märchen mit ihren Feen und Zauberern, die Eingang in unsere Literatur fanden.

Von Algebra bis Ziffer
Als die katholischen Könige Granada 1492 mit Feuer und Schwert eroberten, die Mongolen hundert Jahre zuvor Bagdad brutal zerstört hatten, wurden viele wissenschaftliche Handschriften vernichtet. Trotzdem hat sich ein beachtlicher Wissens- und Wortschatz arabischer Herkunft erhalten, der längst als organischer Teil westlicher Sprachen empfunden wird – von Algebra, Alkohol und Atlas über Jacke und Kümmel bis zu Watte und Ziffer.
„Lange hatte Europa an einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber der islamischen Welt gelitten“, schreibt der britische Orientalist W. Montgomery Watt. „Europa konnte sich davon nur befreien, indem es das Bild des Islam entstellte und zugleich den arabischen Umweg verleugnete, auf dem es einen großen Teil seines antiken Erbes empfangen hatte. Es gehört zu den aufregendsten neueren Erkenntnissen der westlichen Orientalistik, dass der Anteil des Islam am westlichen Selbstverständnis weit größer ist als bisher angenommen.“

Die Ausstellung aus Frankreich erklärt sorgfältig, dass Kulturen und Gesellschaften samt ihrer Gelehrsamkeit keine dauerhaften Gebilde sind. Alles lebt in und mit ständiger Veränderung, alles vermischt und überschneidet sich.

Buchtipp:
Einen guten Blick zur Geschichte von Wissenschaften und Technologien weit über Europa hinaus vermittelt das Buch „Keilschrift, Kompass, Kaugummi. Eine Enzyklopädie der frühen Erfindungen“ der britischen Archäologen Peter James und Nick Thorpe. dtv, München 2002. 448 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 10 EUR.

Externer Link:
www.diplomatie.gouv.fr/culture/expositions_scientifiques/sciences