Montag, 1. Oktober 2007

Kleider ordnen - internationale Dresscodes

DU BIST, WAS DU TRÄGST:
WAS INTERNATIONALE DRESSCODES UNS ERZÄHLEN

Vor einer viertel Stunde bin ich gelandet. Exit – zum Ausgang. Milchige Glastüren öffnen sich. Auf vieles war ich vorbereitet - aber nicht auf das jetzt:  Aus tausend dunklen Augenpaaren werde ich angestarrt.  Bis zum Taxi muss ich mich durch ein dichtes Menschen-Spalier bewegen, vorbei an weißen wallenden Gewändern der Männer und den schwarzen Kutten vereinzelter Frauen. Sie alle gehören zum Sultanat Oman, dem südlichsten Zipfel der Arabischen Halbinsel. Da gehe ich nun und kann nicht anders: „Allah, bitte, schick mir einen dieser unförmigen Umhänge oder wenigstens ein Kopftuch!“ Denn plötzlich spüre ich Nacktheit, eine,  die ich als Ausgeliefertsein  bezeichnen möchte.   

Ausgeliefert in eine völlig andere Welt. Nichts Alltägliches für mich. Also her mit dem Knigge für Nichtmoslems! Ich staune.  Wichtigstes Kapitel: Die Kleiderordnung. Bis zu dieser Flughafen-Glastür fühlte ich mich in unauffälligem Hosenanzug durchaus korrekt gekleidet, Arme und Beine sittsam bedeckt.
Trotzdem ist jetzt zweifellos Befangenheit  mein Mitbringsel.  Ich bin beruflich viel unterwegs,  lande in Ländern,  in denen Modediktate italienischer Edelschneider oder spanischer Konfektionsketten Modernität, Sportlichkeit oder Seriosität signalisieren wollen, die sogar in  gewisser Weise völkerverbindend entworfen werden - aber für welche Völker? Für die Besserverdiener von Berlin, Singapur, von Tokyo, von Madrid, Moskau,  New York,  London, Paris oder von Rom?  Und ich da zuweilen mitten drin, zweifellos jedes Mal neu verunsichert: Ich bin Deutsche, mir hängt in Geschmacksfragen ein schlechter Ruf an,  besonders in Sachen Mode.  Stimmt, denn häufig treffe ich meine Kleiderauswahl nach praktischen Aspekten, ganz im Gegensatz und zum Entsetzen meiner romanischen Freundinnen.  Die Trendsetter-Rolle liegt mir nicht so, eher die Stimmungslage:  Ist mein Dekolleté tief, mein Rock kurz, nenne ich es Freizügigkeit, sogar Befreiung.  Es kommt auch  vor, dass ich mich modisch wegducken möchte. Dann beneide ich so manche die Araberin unter ihrem weiten Gewand, die schöne Inderin, die nie ihre Beine zeigen wird (wohl aber ihren Bauch) oder die traditionelle Koreanerin, die ihre Hände versteckt hält.  Aber ob das alles auf Männer anziehend wirkt, ob meine Bekleidung  irgendeiner Tradition oder Moralvorstellung entspricht, darüber habe ich bisher nie nachgedacht.

Hier im tropischen Reiseziel angekommen, ist es auf einmal so weit: Nachdem mich der klimatisierte Airport-Bereich freigegeben hat, haftet nicht nur mit jedem Schritt meine europäische Robe feuchter an mir, ich empfinde obendrein jeden Blick als stechend. Man scheint mir mit den Augen zu folgen bis ich im Taxi verschwunden bin. Was ich in diesem Land will, ist nicht zu erkennen, und mit meinem unbedeckten Haar bin ich wohl schon ein beachtlicher Reizfaktor. Unsicher gehe ich voran.   Sind diese fremden Blicke interesseloses Wohlgefallen oder gar Skepsis gegenüber dem Auftreten einer westlichen Frau?

Diese Frage ist eine an die andere Kultur. Eine tückische Frage, denn sie entzieht sich raffiniert der  genauen  Beantwortung. Befinden wir uns beim Thema Kultur-Annäherung noch immer bei unseren tausendjährigen Vorfahren?

Nur einige Flugstunden von Berlin entfernt, gilt mein dunkler Hosenanzug als  „Männerkleidung“ – laut Islam-Knigge bin ich nun  eine der ernstesten Bedrohungen islamischer Rechtgläubiger. „Frauen dürfen keine Männerkleider tragen; denn der Prophet verfluchte Frauen, die sich wie Männer kleideten: Werft sie aus euren Häusern“!  Ich blättere im „Hidjaab, der Kleiderordnung der Muslimischen Frau nach Quran und Sunnah“ und bin baff. Dieses Druckwerk schreibt doch tatsächlich den Frauen  in allen Einzelheiten vor, wie sie sich außerhalb des Hauses zu bewegen haben. Begründung?  „Die islamische Frau muss vor den Blicken fremder Männer geschützt  werden, weil eine Frau ohne Hidjaab, die Männer-Blicke auf sich lenkt und dies zu niedrigen Motiven und Begehren der Männer führen kann.“

Folglich geht es bei der Verhüllung der Frau immer um den Mann? Seinetwegen, seines Triebes wegen, seiner frivolen Gelüste wegen müssen meine moslemischen Schwestern in Sack und Asche gehen, müssen bei tropischen Temperaturen unter ihren schwarzen Stoffen wie in einer finnischen Sauna schwitzen? Sind Osteoporose –und Rachitisgefährdet, weil kein Sonnenstrahl, kein Vitamin D, ihre Haut trifft.  Ich versuche mich  immer wieder in diese bizarre Denkweise hineinzuversetzen. Es will mir nicht gelingen. „Stellt Eure Reize nicht heraus wie in der früheren Zeit der Unwissenheit“  (Sure 33.33) befiehlt der Koran.  

Welche Zeiten sind gemeint? Jene im Paradies, als unsere Urahnen  splitterfasernackt und ungeniert zwischen den Apfelplantagen umher irrten, und zwar solange, bis Eva ihren Adam verführte, vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Gemäß Altem Testament ist SIE  durch diese erste Sünde für das Unheil und die Mühsal der gesamten Menschheit verantwortlich. Von Stund an begann sich das erste Menschenpaar zu schämen: „Wo verstecken, wie bedecken“?  fragten sie bange. So startete der Mode-Stress. In ihrer jähen Not griffen die beiden zum nächst Besten: zum Feigenblatt,  später zum Fellmäntelchen.

„Frühere Zeiten der Unwissenheit?“ Oder sind die antiken Zeiten, die der griechischen Mythologie, gemeint, als viele starke Göttinnen den Männern Beine machten? Was wissen wir noch von der Macht der Göttinnen Hera, Hestia, Gaia, Hemera oder Eurybia, von Athene und Aphrodite? Das müssen echte Power-Weiber gewesen sein, so herkulisch,  dass sich  – der Verdacht liegt nahe - die Männerwelt mit der Erfindung neuer patriarchalischer Religionen an ihnen rächen wollte? Denn – eigenartig - allen drei Religionen des Buches, Judentum, Christentum sowie der Islam,  pflegen oder pflegten Frauen-Unterdrückung. Sie wurden versteckt und bedeckt, kurz: Es entstand eine finstere Geschlechterbeziehung. Apostel Paulus hatte befunden, dass der Mann Abbild Gottes sei, die Frau hingegen nur Abbild des Mannes, sie müsse deshalb ihren Kopf bedecken. Zu Mohammeds Zeiten diente der Schleier der sozialen Abgrenzung und war Frauen aus privilegierten Kreisen vorenthalten. Erst langsam avancierte er zu einem hochaufgeladenen Textil.

Andererseits wirkten die verhüllten Musliminnen auf damalige Kolonialherren  höchst reizvoll. Gleichzeitig wurden daheim  die exotischen und erotischen Schönheiten – vielleicht als verkappte Lobeshymne auf die keusche westliche Frau des 19. Jahrhunderts - verurteilt.  Alle in puritanischen Zeiten verbotenen Handlungen wurden – zuweilen auch als Phantasie -  in die ganz andere Welt, in die des Orients, verlagert.
Rada Ivekovic,  kroatische Philosophin, formuliert das so: „Im Westen gehören zu den Hauptmodellen des Anderen der Orient, der Islam und die Frauen. Und auf jenes Andere wird alles Negative projiziert.  

Es ist vorgekommen, dass durch westliche Schwerenöter  die Orientalinnen damals gezwungen wurden, den Schleier abzulegen, damit ihre voyeuristischen Maler und Fotografen Harem-Bilder mit halb nackten Damen produzieren konnten. Das gehört zu einer der vielen schlechten  Erfahrungen  mit der Präsenz des Abendlandes. Sie prägen das gesamte gesellschaftliche Leben in den postkolonialen Staaten der Arabischen Welt, wobei die radikale Rückbesinnung auf  die islamische Kultur eine wichtige Rolle spielt.  Geschlechterspezifische Konflikte bleiben tabuisiert.  Formen des Widerstandes, die es in den 1300 Jahren der Geschichte des Islams gab und an denen Frauen aktiv beteilig waren, werden bis heute ignoriert.

„Die Bedeckung mit Kopftuch und Mantel hebt die Gleichheit der Schwestern im Islam hervor und entlastet vom Leistungsdruck weiblicher Schönheitskonkurrenz“, schreibt die ägyptische Wissenschaftlerin Fadwa El Guind.  Konkurrenz unverwünscht? Die Ägypterin erklärt weiter: Das zentrale Motiv sei,  durch eine  bescheidene und anständige Kleidung der Muslima dem Willen Gottes zu entsprechen.  So stehe die Muslima ganz im Gegensatz zu verwestlichter Kleidung die mit schamloser Entblößung und damit einer Entwürdigung der Frau verbunden werde, meint die Ägypterin.

Aber gerade im chaotischen Kairo werden, so wie ich’s sah, die Kleidervorschriften nicht extrem streng gehandhabt, ebenso in Tunesien, in Algerien, Marokko oder dem Libanon.
Unterhalb der Corniche von Beirut habe ich im Hochsommer badende Mädels beobachtet, über denen sich ein stattlicher Stoff-Ballon blähte, als sie in voller schwarzer Moslem-Montur inklusive Kopftuch zu schwimmen versuchten. Danach  entstiegen wie  ein nasser Kartoffel-Sack dem Mittelmeer.  Indessen räkelten sich unbekümmert gleich nebenan am Pool des Hilton-Hotels von der Sonne gegerbte Bikini-Beauties libanesischen Urprungs. Welch ein Kontrastprogramm der Mode! Und die verrät einiges über die Gesellschaft, ihre Konventionen, ihre sozialen Verhaltensweisen

Vom Flugplatz fahre ich per Taxi  zur Sultan Qaboos Universität ausserhalb der Hauptstadt Maskat im Oman. Es ist das  Musterland der streng Arabischen Welt in Sachen Reform und Frauenrechten, denn die meisten Omanis gehören einer Art „Dissidenten-Islam“ an, den Ibaditen.  Jedes Kind geht zur Schule, und die Hälfte der Studenten sind Frauen. „Jede Studentin darf sich nach ihrem Geschmack kleiden“, empfängt mich die freundliche Presse-Sprecherin Fawzia, „Alles ist erlaubt – mit einer Ausnahme:  Die Verschleierung ist verboten, denn zu viele wurde bei Prüfungen unter dem schwarzen Tuch gemogelt.“ Weibliche und männliche Studenten sitzen bei uns im selben Hörsaal, das ist ein Fortschritt bei der sonst strengen Geschlechter-Trennung.  Männer vorne,  Mädels hinten“.

Diese Begegnung  stärkt mein eigenes Selbstbewusstsein. Bei der nächsten Einladung zum privaten coffee-morning zu Fatma, der Koran-Lehrerin,, trage ich ein  Kostüm nach westlichem Schnitt -  meine Beine sind sichtbar.  Aber Sehen scheint auch hier Sünde zu sein, selbst da, wo sich ein Frauen-Zirkel trifft.  Fast  alle tragen ihre schwarze, langen Abayas plus Kopftuch. „Eine gut sitzende Abaya  muss so lang  geschnitten sein, damit sie beim Laufen die Schritt-Spuren der Trägerin verwischt, so dass ihr kein Mann folgen kann.

Alle in bedrohlichem Schwarz. Hat ein Kloster Ausgang? Und doch findet hier Mode statt. Fast unsichtbar für mich.  Die Damen beginnen, die winzigen Unterschiede ihrer Abayas gegenseitig zu bewundern,  die kunstvollen Hohlsäume, die gestickten Blüten oder die goldenen Borten. Das alles hat mein Kostüm  nicht zu bieten. Unsicher realisiere ich, dass die Anwesenden mich taxieren, mein schlichtes Äußeres einzuordnen versuchen,  meine Beine bemerken. Irgendwann fasse ich mir ein Herz: „Warum seid Ihr hier unter uns und bei dieser Hitze so schwarz  eingepackt?“  – „Schwester, wir fühlen uns wohl. Außerdem sind wir nicht sicher,   ob vielleicht der Gärtner das Haus betritt.“

„Jede Kultur hat andere Tabus: Im islamischen Orient wird alles Leibliche schamhaft  im Haus beziehungsweise unter Hüllen versteckt, während  das Schlachten und Opfern öffentlich geschieht; im Okzident  wird das Schlachten von Tier-Leibern ins Schlachthaus verbannt, während alles Leibliche freizügig zur Schau getragen  wird...“ so hat die Wiener Künstlerin Sini Coreth die kolossalen Kultur-Unterschiede in einer ihrer verblüffenden Video-Installationen auf den Punkt gebracht.

Wenn zur Kultur eines Volkes seine Selbstdarstellung, seine bildliche Omnipräsenz, gehört, dann steckt der feminine Teil der islamischen Länder – freiwillig oder unfreiwillig - seine Intimsphäre, seine Scham sehr weiträumig ab. Viel weiter als in der Gegenwelt, der Welt des Westens:

Als Samia, die Studentin der Tourismus-Akademie des Sultanats Oman, in einem Berg-Dorf herangewachsen, vor einem Jahr bei mir in Berlin ankam, in meine vertraute, ihr jedoch unbekannte Welt eintrat, in eine Welt,  die ihre Zivilisation, ihre Art der gesitteten Bekleidung nicht anerkennt,  als minderwertig,  als Mode-Muff oder sogar als Freiheitsberaubung abtut, war sie schockiert.

Erst mit ihr zusammen  gerät der Gang durch eine mir sonst vertraute deutsche Fußgängerzone zur seelischen Tortur.  Durch ihre orientalische Optik  bemerke ich plötzlich die vielen  prallen Popos in hautengen Hosen, die knappen shirts sowie die zu kurzen skirts“. Samia kommentiert höflich: „Bei Euch läuft der menschliche Umgang über ganz andere Signale als in meiner Heimat ab.“  Erstaunlich!  Unsere „freiheitliche“ Alltagswelt ist für Samia wie ein pulsierender Porno-Poster, auf dem sich die Geschlechter inszenieren. Sie formuliert es noch deutlicher:  „Mein Gott, so viel Prostitution in Eurer Stadt – alle Frauen so leicht zu haben...“  

Das hat sie anfangs enorm verwirrt, sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert. Langsam begann ich zu ahnen, dass Samias schwarze Verhüllung für sie selbst eine doppelte Funktion hat: Nach außen geschlechtsneutralisierend, nach innen geschlechtsbetonend. „Meine korrekte Kleidung ist für mich ein Befehl Gottes. Ich will nicht durch meine Weiblichkeit wirken, sondern durch meine inneren Werte. Damit fühle ich mich geborgen und damit werde ich in meinem Dorf -  auch in der Universität - von den Männern respektiert.  Ich glaube, deshalb hat Gott diese spezielle Kleidung uns Muslimas befohlen“.  Nach und nach begriff  Samia, dass sie in Berlin nicht bei jedem unverhüllten Hals oder Kopf einer Vergewaltigung ausgesetzt ist.

Zurück in Samias Heimat: Als ich dort nach Tagen meine Reise beende und  wieder am Ausgangspunkt, also am Flugplatz, eintreffe,  befindet sich neben mir der weibliche Part  einer jemenitischen Familie. Die Herren sitzen weit abgesondert in ihren weißen Dishdashas,  darüber die typische zerbeulte Anzugjacke samt kunstvoll ziseliertem Krummdolch im Gürtel – malerische Gestalten. Sie tun so,  als hätten sie mit dem Rest der  weiblichen Verwandtschaft  in ihren beklemmenden Stoffmassen  nichts zu tun.

 „Meine Tochter Bilqis wird Zahnärztin, sie ist sehr schön“, sagt die Mutter durch ihren Gesichtsschleier hindurch und deutet neben mir auf etwas, das ein Lebewesen sein könnte.  Es befindet sich unter einem blickdichten Zelt.  -  „Wirklich?“ – „Ja, weil sie so schön ist, darf sie kein Mann sehen“. -„Aha?“   Wieder wendet sich die Mutter an mich und fragt: „Schwester, warum bist Du eigentlich nicht verhüllt? Du siehst doch gar nicht so schlecht aus?

Heidemarie Blankenstein,
 zurück aus Maskat/ Oman 2007

 Erschienen im Magazin  KULTURAUSTAUSCH  Oktober 2007




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen