Regnet es in Kabul,
überspülen Plastiktüten, Aas und Dreck die Gassen. Das unterscheidet Afghanistan nicht von anderen Ländern dieser Erde, deren Abwasser- und
Abfallentsorgungen offen am Wegesrand verlaufen. An solchen Tagen haben es die alten
Männer in ihren Sandalen schwer, wenn sie sich mit hoch beladenen Obstkarren in
Richtung Markt abmühen. Immer wieder versinken sie in den schlammigen
Fahrrillen.
Rillen, die auch unser
Geländewagen zieht, in dem wir ins 30 Kilometer entfernte Bergdorf Paghman
wollen. Wir – das sind der afghanische Fahrer Mr. Nasr, ein Beamter des afghanischen
Außenministeriums, mein Mann und ich – alle völlig unbewaffnet, aber mit einem
kleinen deutschen Aufkleber an der Tür, auf einen gewissen guten deutschen Ruf in dieser
Weltgegend, auch auf unsere Unauffälligkeit hoffend. Wir unterscheiden uns jedenfalls
sehr von den ISAF (International
Security Assistance Force in Afghanistan) – Spähtrupps, die Autorität
und Aktivitäten der legitimen afghanischen Regierung absichern sollen. Sie
hocken, schusssicher gewappnet, hoch oben auf tarnfarbenen Schützenpanzerwagen hinter
Maschinengewehren und versuchen wild gestikulierend, den chaotischen Kabuler Verkehr auf Abstand zu
halten. Das gelingt meistens nicht. Schon manchmal hat sich bei diesen
Patrouillen ein nervöser Schuss gelöst.
Jetzt muss die Bevölkerung (die zu einem
hohem Prozentsatz nicht lesen kann)* rote
Warnschilder an den Militärfahrzeugen beachten: „30 Meter Abstand halten!“
Und das in einer pulsierenden
Millionen-Stadt, die am Verkehrs-Chaos
zu ersticken droht, weil ihre Haupt-Adern durch die monströsen Beton- und
Sandsackbarrikaden zum Schutz des ISAF-Hauptquartiers,
der weitläufigen Anwesen von US-AID, der CIA
sowie der Botschaft der USA und des Präsidentenpalastes rücksichtslos durchtrennt sind.
Endlich erreichen wir die Ausfallstraße nach Westen. (
* etwa 80 %)
Ernst und aufmerksam stehen Kinder am Straßenrand und wollen Tomaten
verkaufen. Wie weit mag ihr Weg sein, den sie barfuß und schwer beladen gehen
müssen, bis sie zur Hauptstraße kommen? Bis hierher, wo die Autobesitzer, die
Gewinner also, flüchtig vorbeirollen.
Sind wir, die Fremden, Teil ihres Sehnens? Wir halten bei einem. In wenigen
Minuten sind wir umringt von zirka zwanzig kleinen Händlern. Ihre abgemagerten
Körper bedecken entweder Pyjamas, ähnlich
der alten Taliban-Zwangs-Kleidung, oder verschlissene Hosen – nur von einer
Schnur gehalten.
Ich sehe in Kindergesichter
mit tiefen Falten um den Mund und Tränensäcken unter den Augen, und dann kaufe
ich Tomatenmengen, die bis zum Jahresende ausreichen. Sie bedanken sich überschwänglich - und schon
sind wir aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Zu schnell. Die Straße steigt
leicht in Richtung Gebirge, verbessert ihren Belag sogar bis zur kompletten
Asphaltierung. „Wir durchqueren jetzt zwei Stammesgebiete,“ erklärt unser
afghanischer Außenamts-Beamter „deren Kommandanten, Abu Sayaf und Mullah Esat, zwar
Nachbarn sind, aber keine Freunde. Auch im Jahr des Herrn 2007 und im Jahr des
Propheten 1386 bekriegen sie sich, jetzt allerdings vorwiegend mit politischen
Mitteln. Es geht immer um Macht, nicht um Frieden.“ Komplexe, deren innerer Zusammenhang uns Ortsfremden kaum erkennbar ist.
Erkennbar sind
plötzlich in der Ferne zwei querstehende Pkws. Versperren die etwa unseren Weg?
Unser Wagen nähert sich vorsichtig. Die Behinderung löst sich zwar auf, aber sie
nimmt uns in die Zange: Ein Wagen fährt vor uns, der andere verfolgt uns von hinten.
In jedem erkenne ich vier finstere Gestalten in Militärklamotten. Sie halten Kalaschnikoffs
zwischen den Knien. „Das war’s dann wohl“, denke ich, während sich unser
afghanischer Freund fürsorglich nach meiner Angst erkundigt. Eine Angst, die über diese Straße heranrollt,
zielgerichtet bei mir ankommt und sich ganz dicht an meinen Nerven festsetzt.
Entführung hier und jetzt? Und dann noch selbst verschuldet? Nach der
Entführung dreier Deutscher und dem traurigen Tod dreier deutscher Polizisten
dürfen sich Botschaftsmitarbeiter, auch Militärs nur unter Einhaltung
strengster – fast selbstquälerischer- Sicherheitsregeln aus ihren Festungen
herauswagen. Wir haben das ignoriert.
„Die Menschen sehen
in dieser Gegend alle so aus“, höre ich den Freund aufmunternd sagen. Misstrauisch beobachte ich
unsere Eskorte.
In Paghman angekommen,
parkt die einfach vor einem Tor. Wollten diese acht Afghanen wirklich nur an
diesem Nachmittag bei ihrer Verwandtschaft bewaffnet Tee trinken?
Sollte auch mir - bei der allgemeinen aufgeregten Fokussierung auf Afghanistan - jegliches
Augenmaß verloren gegangen sein? Kommt
es nicht rund um den Globus täglich zu
Kriminalität? Da wird zur Durchsetzung sozialer oder politischer Anliegen
gemordet und erpresst - nicht nur am Hindukusch.
Sieben Jahre hatten die Russen versucht,
Paghman, das Paradies Afghanistans, einzunehmen. Während der Fahrer den
Vierradwagen weiter hinauf in die Berge
quält, schwärmt unser Begleiter: „Diese
Gegend hier war voller blühender Gärten und fruchtbarer Felder. Sie war die exquisite
Sommerfrische der Hauptstädter“. Meine Angst löst sich in Staunen auf: Ich höre
einen rauschenden Bach, das Geklapper von Teegeschirr, ich schnuppere Bergluft,
vermischt mit gegrilltem Kebab und sehe ringsherum Männer, die anstelle von Waffen
dicke Lavendelsträuße tragen. Unter
schattigen Bäumen liegen Teppiche und Polster, die zum Verweilen einladen.
Wir verweilen nicht
lange. Unsere Fahrt geht weiter zum Kargha Stausee. Wieder erreichen wir ein ehemals
stark umkämpftes Gebiet, geschundenes Land, - ich meine zu träumen - in einen Golfplatz verwandelt. Seine Greens
bestehen aus ölgetränktem Sand, während der gesamte Platz ein Gemisch aus Gestrüpp und Geröll ist, aber
– wie uns versichert wird – von Minen
geräumt. Also wagen wir einige Abschläge
und schauen uns im „Golf-Club“ um. Wir spüren
einen Hauch von Normalität, der unserem Afghanistan-Bild
aus einem Gebirge von Gefahr und Trostlosigkeit nicht ganz entspricht.
Es dämmert, aber
immer noch fahren über den riesigen
See Motor- und Tretboote gemächlich
dahin. Manche Männer baden oder angeln sogar. Eine beschauliche Stimmung. Keine
Sandsackbarrikade versperrt den Blick. Als wir zu frischem Kebab und duftendem
Fladenbrot eingeladen werden, platziert der freundliche Kellner etwas
Geheimnisvolles, in einer schwarzen
Plastiktüte versteckt, mitten auf
unseren Tisch. Neugierig packen wir aus: Wieder so eine Fatahmorgana in einem
islamischen, alkoholfreien Land: Echtes Heineken Bier! Hier am leise plätschernden Kargha See, mitten
im Gebiet des strengen Kommandanten
Mullah Esat scheinen uns für
Stunden die Probleme dieser Welt ganz weit weg.
„Kommt Ihr am Freitag mit in mein
Pandschir-Tal?“ fragt uns der Pandschabi
Mr. Saband. Seinen Kopf schützt eine runde Pandschabi- Filzmütze. Über dem
langen Leinen-Hemd und den Pluderhosen trägt er ein westliches Jackett, in dem
ein mobiles Telefon steckt. Er ist der Hausangestellte unseres treuen afghanischen Außenamts-Beamten und
scheinbar ein gefragter Mann. Sein
Telefon klingelt unaufhörlich, als wir Kabul in Richtung Kundus verlassen. Rund
200 Kilometer sind es bis zum heutigen Ziel.
Hoch über der Straße
ein Banner: „Unsere Polizei ist der
Lichtblick der Stadt“, liest mein Mann
vor und freut sich. Ist es doch eine Anerkennung seiner Arbeit als Deutscher
Sonderbotschafter. Seine Aufgabe war es, die internationale
Unterstützung für den Aufbau einer neuen afghanischen Polizei richtig
einzusetzen. Denn Grenz-, Verkehrs-, Kriminalpolizei kosten den afghanischen Innenminister gar nichts. Sie werden einzig und allein von ausländischen Steuerzahlern finanziert und
ausgebildet, allen voran Deutschland. Doch nur 40 deutsche Polizisten mit
Englischkenntnissen waren freiwillig bereit, am Hindukusch Polizei-Offiziere auszubilden. Zu wenig! Also hat die deutsche Regierung
ihre Ausbildungsverpflichtung in europäische
Verantwortung übergeben, an die neue Mission EUPOL-Afghanistan, auf mehr
Freiwillige Ausbilder hoffend. Über „zu wenig“ wird auch bei der Entlohnung
geklagt. 70 Dollar Lohn (für jeden der 62.000 Polizisten im ganzen Land) monatlich für einen riskanten Job: Selbstmordattentäter
hatten am 17. Juni 2007 eine Bombe in
einen Polizeibus geworfen – 35 Opfer. Im selben Monat hatten US-Soldaten bei einem ihrer Anti-Terror-Einsätze
in Nangarhar versehentlich sieben afghanische Polizisten erschossen. Riskant und wenig bezahlt. „Die
Taliban bieten mir 250 Dollar monatlich,
ich habe eine große Familie, allein ein
Sack Reis kostet mich 60 Dollar. Das zwingt mich meinen Polizisten-Lohn irgendwie aufzubessern,“ erklärt uns ein Verkehrspolizist aus der Provinzhauptstadt Charikar.
Noch lange bevor wir Charikar erreicht hatten,
kamen wir durch grauenvoll zerstörte Dörfer. Den Menschen blieb nur die Flucht: Sechs Millionen nach Pakistan; zwei Millionen in den Iran. Wem die Flucht nicht gelungen war, wurde Opfer der machthungrigen Stammesführer, die sich von den gegenüberliegenden Gipfeln –
nachdem die Russen besiegt waren - bombardierten
und dabei die gesamte dichtbesiedelte Kabuler Hochebene in Schutt und Asche
legten. Afghanen gegen Afghanen. Einer von ihnen war der „Löwe des
Pandschir-Tals“, General Massoud. Sein
Beiname resultiert aus der erbitterten Verteidigung seines schönen
Pandschir-Tals gegen russische Eindringlinge und später auch gegen die
paschtunischen Taliban.
Welch ein Zauber über
diesem fruchtbaren Tal! Verständlich, dass es einst zum „Hippie-trail“ gehörte.
Hierher kamen Jugendliche aus dem Westen wegen der grandiosen Natur, wegen des wilden
Lebensstils und wegen des besten Haschischs der Welt. Sie wurden zu Kolonialisten
- auch zu Geldbringern, aber zu
würdelosen. Erst die Invasion der
Sowjetunion 1979 beendete diese Art des touristischen Treibens. Doch Afghanistans wichtigste Einnahmequelle
versiegte. Einsam donnert heute der unbändige Pandschir-Fluss durch die
hochaufragenden Felswände. Märtyrergräber, mit grünen Fahnen geschmückt, säumen unseren
Weg.
An den
unwahrscheinlichsten Stellen, sogar mitten im klaren Wasser des Flusses, liegen ausgebrannte Panzer. Manch ausgebombtes
Militärfahrzeug dient jetzt als Kiosk. Ein einzelner Bauer geht vor
einem Pflug her. Mitten auf seinem Acker liegt ein verrosteter Panzer. Er
bewegt sich vorsichtig um das Wrack herum. Am Straßenrand laufen Kinder mit
Brennholz und Frauen mit Wassereimern. Sie meiden die Gräben, in denen noch Minen
liegen könnten. Im und am Fluss
gehen die modernen afghanischen
Familienväter ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: Sie waschen sorglos ihr Auto.
Wieder spüre ich diesen Hauch der
Normalität.
Unser Mitfahrer, der Pandschabi Mr. Saband, ist in diesem Tal zu Hause.
Bevor er uns in sein Haus einlädt, führt er uns feierlich auf eine Anhöhe zum Grabmal von General
Massoud, dem Held der Tadschiken. Er
zeigt es uns wie ein Heiligtum: „Fremde Eroberer haben gegen uns keine Chance. Wir haben sie bisher alle besiegt.“ Dieser Satz verfolgt mich
lange. 55 verschiedene und stolze Ethnien beherrschen Afghanistan. Wo ist der Faden, der aus diesem Macht-
Labyrinth herausführt? Wer kann der jetzigen Regierung das Gewaltmonopol
sichern? Fremde Truppen etwa?
Das Haus seiner
Familie liegt hoch am Hang und verbreitet Ferienstimmung. Nach der steinigen Kletterpartie
sind wir froh, auf den bunten Kissen des Salons ausruhen zu dürfen. Frische Bergluft
weht durch die weißen Spitzengardinen. „Alles
war bis auf die Grundmauern zerstört“, berichtet der Hausherr. Die Großfamilie ist versammelt: Brüder,
Neffen - sogar die Hausfrau –
unverschleiert - erscheint: „Bis vor einem
Jahr war unsere gesamte Familie mit dem
Wiederaufbau beschäftigt. Das war auch gut so, denn das lenkte uns ein wenig von
unserem Kummer ab: Unsere beiden Söhne sind für General Massoud gestorben“. Beim Namen Massoud liegt ein
gewisser Stolz in ihrer Stimme. Aufrecht
steht sie mitten im Raum und beginnt über die ungerechten, radikalen Taliban-Jahre
zu klagen. Dann breitet sie eine Plastikfolie über den Perser, schleppt Tabletts mit Reis,
Fleisch, Gemüse, Salat, Brot und sogar Coca Cola herbei. Aus einer Ecke dudelt ein Fernseher ein indisches Musik- und
Tanzprogramm - das gehört wohl zum modernen afghanischen Leben.
Unsere Gastgeber
werden gleich bei einer Hochzeit erwartet. Wir könnten gern mitkommen. Da wir
vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Kabul sein wollen, müssen wir das
gastfreundliche Angebot ablehnen. Dann verabschieden wir uns, lassen sie mit
ihrer Erinnerung an Zeiten von Invasionen
und Einmischungen allein.
Hoffnung liegt gleich
am Kabuler Stadtrand, den wir abends von Norden her erreichen.
Neuerrichtete glitzernde „Hochzeits-Paläste“
bieten – Frauen und Männer in getrennten Sälen - Platz fürs Feiern. Ebenso wurden Trauerhäuser errichtet, wo
Trauernde – Frauen und Männer getrennt – Kondolenzgäste bewirten können, wenn ihr eigener Wohnraum zu klein ist.
Zu klein ist es fast
überall im Nachkriegs-Kabul. Die Rückkehrer aus den Flüchtlingslagern in
Pakistan und Iran finden kaum eine Unterkunft. Aus Not wurden rostige Container in Wohnungen
oder Läden umfunktioniert. Aus ihnen werden Trauben, Melonen, Kartoffeln, Zwiebeln, kleine Bananen, Walnüsse oder
blutende Schlachter-Ware feilgeboten.
Kabul ist also kein
perspektivloser Flecken. Nicht nur Zerstörung und Leid bestimmen seine Architektur: Da erstreckt sich
zum Beispiel gleich neben dem „Landmark“-Hotel
ein glanzvolles Einkaufszentrum aus Marmor, Glas und eleganten Treppen.
Angeboten werden elektronische Geräte und regionale Mode.
Wieder umweht mich
ein Hauch von Normalität.
Unsere eigene
bescheidene Herberge steht an einer der belebten Verkehrsadern Kabuls.
Morgens um Sieben erreiche ich - nach lebensbedrohlicher Querung - die
Backstube gegenüber. Ampeln oder Zebrastreifen? Gibt es noch nicht. Durch den
Schleier der Abgase steigt mir der Duft des
frischen Brotes in die Nase. Acht
Bäcker hocken teigknetend Tag und Nacht wie Zarathustras Söhne über einem
Feuerloch. Ich blicke in den heißen Abgrund und sehe Brotfladen. Auf einer
Stein-Empore in dieser niedrigen Hütte scheinen sich die Bäcker abwechselnd auszuruhen. Ihre Hemden sind fadenscheinig, Ihr Lachen ist überzeugend.
Hat diese Szene auch
etwas Pittoreskes, täuscht sie doch
nicht darüber hinweg, dass es zurück zur „Schweiz Asiens“, wie das Land vor 80
Jahren von König Aman Ullah genannt
wurde, noch ein langer, heißer Weg sein könnte.