Freitag, 17. August 2007

Mitten im Leben vom Krieg umgeben - Der Hauch von Normalitaet


Regnet es in Kabul, überspülen Plastiktüten, Aas  und  Dreck die Gassen.  Das unterscheidet  Afghanistan nicht von  anderen  Ländern dieser Erde, deren Abwasser- und Abfallentsorgungen offen am Wegesrand verlaufen. An solchen Tagen haben es die alten Männer in ihren Sandalen schwer, wenn sie sich mit hoch beladenen Obstkarren in Richtung Markt abmühen. Immer wieder versinken sie in den schlammigen Fahrrillen.

Rillen, die auch unser Geländewagen zieht, in dem wir ins 30 Kilometer entfernte Bergdorf Paghman wollen.  Wir – das sind der afghanische  Fahrer Mr. Nasr, ein Beamter des afghanischen Außenministeriums, mein Mann und ich – alle völlig unbewaffnet, aber mit einem kleinen deutschen Aufkleber an der Tür, auf  einen gewissen guten deutschen Ruf in dieser Weltgegend, auch auf unsere Unauffälligkeit hoffend. Wir unterscheiden uns jedenfalls  sehr von den  ISAF (International Security Assistance Force in Afghanistan) – Spähtrupps, die Autorität und Aktivitäten der legitimen afghanischen Regierung absichern sollen. Sie hocken,  schusssicher gewappnet,  hoch oben auf  tarnfarbenen Schützenpanzerwagen  hinter  Maschinengewehren  und versuchen  wild  gestikulierend,  den  chaotischen Kabuler Verkehr auf Abstand zu halten. Das gelingt meistens nicht. Schon manchmal hat sich bei diesen Patrouillen  ein nervöser Schuss gelöst. Jetzt  muss die Bevölkerung (die zu einem hohem Prozentsatz nicht lesen kann)*  rote Warnschilder an den Militärfahrzeugen  beachten: „30 Meter Abstand halten!“
Und das in einer  pulsierenden Millionen-Stadt, die am Verkehrs-Chaos  zu ersticken droht, weil ihre Haupt-Adern  durch die monströsen Beton- und Sandsackbarrikaden  zum Schutz des ISAF-Hauptquartiers, der weitläufigen Anwesen von US-AID, der CIA  sowie der Botschaft der USA und des Präsidentenpalastes  rücksichtslos durchtrennt sind.   

Endlich erreichen wir die Ausfallstraße nach Westen.          (  * etwa 80  %)

Ernst und aufmerksam stehen  Kinder am Straßenrand und wollen Tomaten verkaufen. Wie weit mag ihr Weg sein, den sie barfuß und schwer beladen gehen müssen, bis sie zur Hauptstraße kommen? Bis hierher, wo die Autobesitzer, die Gewinner also,  flüchtig vorbeirollen. Sind wir, die Fremden, Teil ihres Sehnens? Wir halten bei einem. In wenigen Minuten sind wir umringt von zirka zwanzig kleinen Händlern. Ihre abgemagerten Körper bedecken entweder  Pyjamas, ähnlich der alten Taliban-Zwangs-Kleidung, oder verschlissene Hosen – nur von einer Schnur gehalten.
Ich sehe in Kindergesichter mit tiefen Falten um den Mund und Tränensäcken unter den Augen, und dann kaufe ich Tomatenmengen, die bis zum Jahresende ausreichen.  Sie bedanken sich überschwänglich - und schon sind wir aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Zu schnell. Die Straße steigt leicht in Richtung Gebirge, verbessert ihren Belag sogar bis zur kompletten Asphaltierung. „Wir durchqueren jetzt  zwei Stammesgebiete,“ erklärt unser afghanischer Außenamts-Beamter „deren Kommandanten, Abu Sayaf und Mullah Esat, zwar Nachbarn sind, aber keine Freunde. Auch im Jahr des Herrn 2007 und im Jahr des Propheten 1386 bekriegen sie sich, jetzt allerdings vorwiegend mit politischen Mitteln. Es geht immer um Macht, nicht um Frieden.“ Komplexe, deren innerer Zusammenhang  uns Ortsfremden kaum erkennbar ist.

Erkennbar sind plötzlich in der Ferne zwei querstehende Pkws. Versperren die etwa unseren Weg?  Unser Wagen  nähert sich vorsichtig.  Die Behinderung löst sich zwar auf, aber sie nimmt uns in die Zange: Ein Wagen fährt vor uns, der andere verfolgt uns von hinten. In jedem erkenne ich vier finstere Gestalten in Militärklamotten. Sie halten  Kalaschnikoffs  zwischen den Knien. „Das war’s dann wohl“, denke ich, während sich unser afghanischer Freund fürsorglich nach meiner Angst erkundigt.  Eine Angst, die über diese Straße heranrollt, zielgerichtet bei mir ankommt und sich ganz dicht an meinen Nerven festsetzt.
Entführung hier und jetzt? Und dann noch selbst verschuldet? Nach der Entführung dreier Deutscher und dem traurigen Tod dreier deutscher Polizisten dürfen sich Botschaftsmitarbeiter, auch Militärs nur unter Einhaltung strengster – fast selbstquälerischer-  Sicherheitsregeln aus ihren Festungen herauswagen. Wir haben das ignoriert.

„Die Menschen sehen in dieser Gegend alle so aus“, höre ich den Freund  aufmunternd sagen. Misstrauisch beobachte ich unsere Eskorte.
In Paghman angekommen, parkt die einfach vor einem Tor. Wollten diese acht Afghanen wirklich nur an diesem Nachmittag bei ihrer Verwandtschaft bewaffnet Tee trinken?
Sollte auch  mir -  bei der allgemeinen  aufgeregten Fokussierung auf Afghanistan -  jegliches  Augenmaß  verloren gegangen sein? Kommt es nicht rund um den Globus  täglich zu Kriminalität? Da wird zur Durchsetzung sozialer oder politischer Anliegen gemordet und  erpresst -  nicht nur am Hindukusch. 

 Sieben Jahre hatten die Russen versucht, Paghman, das Paradies Afghanistans, einzunehmen. Während der Fahrer den Vierradwagen weiter hinauf  in die Berge quält, schwärmt unser Begleiter:  „Diese Gegend hier war voller blühender Gärten und fruchtbarer Felder. Sie war die exquisite Sommerfrische der Hauptstädter“. Meine Angst löst sich in Staunen auf: Ich höre einen rauschenden Bach, das Geklapper von Teegeschirr, ich schnuppere Bergluft, vermischt mit gegrilltem Kebab und sehe ringsherum Männer, die anstelle von Waffen  dicke Lavendelsträuße tragen. Unter schattigen Bäumen liegen Teppiche und  Polster, die zum Verweilen einladen.

Wir verweilen nicht lange. Unsere Fahrt geht weiter zum Kargha Stausee. Wieder erreichen wir ein ehemals stark umkämpftes Gebiet, geschundenes Land, - ich meine zu träumen -  in einen Golfplatz verwandelt. Seine Greens bestehen aus ölgetränktem Sand, während der gesamte Platz  ein Gemisch aus Gestrüpp und Geröll ist, aber – wie uns versichert wird – von  Minen geräumt.  Also wagen wir einige Abschläge und schauen uns im „Golf-Club“ um. Wir spüren einen  Hauch von Normalität, der unserem Afghanistan-Bild aus einem Gebirge von Gefahr und Trostlosigkeit  nicht ganz entspricht.

Es dämmert, aber immer noch  fahren über den riesigen See  Motor- und Tretboote gemächlich dahin. Manche Männer baden oder angeln sogar. Eine beschauliche Stimmung. Keine Sandsackbarrikade versperrt den Blick. Als wir zu frischem Kebab und duftendem Fladenbrot eingeladen werden, platziert der freundliche Kellner etwas Geheimnisvolles,  in einer schwarzen Plastiktüte versteckt,  mitten auf unseren Tisch. Neugierig packen wir aus: Wieder so eine Fatahmorgana in einem islamischen, alkoholfreien Land: Echtes Heineken Bier!  Hier am leise plätschernden Kargha See, mitten im Gebiet des strengen Kommandanten  Mullah Esat scheinen  uns für Stunden die Probleme dieser Welt ganz weit weg.

 „Kommt Ihr am Freitag mit in mein Pandschir-Tal?“  fragt uns der Pandschabi Mr. Saband. Seinen Kopf schützt eine runde Pandschabi- Filzmütze. Über dem langen Leinen-Hemd und den Pluderhosen trägt er ein westliches Jackett, in dem ein mobiles Telefon steckt. Er ist der Hausangestellte unseres  treuen afghanischen Außenamts-Beamten und scheinbar ein  gefragter Mann. Sein Telefon klingelt unaufhörlich, als wir Kabul in Richtung Kundus verlassen. Rund 200 Kilometer sind es bis zum heutigen Ziel.  

Hoch über der Straße ein  Banner: „Unsere Polizei ist der Lichtblick der Stadt“, liest mein Mann vor und freut sich. Ist es doch eine Anerkennung seiner Arbeit als Deutscher Sonderbotschafter.   Seine Aufgabe war es, die internationale Unterstützung für den Aufbau einer neuen afghanischen Polizei richtig einzusetzen. Denn Grenz-, Verkehrs-, Kriminalpolizei  kosten den afghanischen  Innenminister gar nichts.  Sie werden einzig und allein  von ausländischen Steuerzahlern finanziert und ausgebildet, allen voran Deutschland. Doch nur 40 deutsche Polizisten mit Englischkenntnissen waren freiwillig bereit,  am Hindukusch  Polizei-Offiziere auszubilden.  Zu wenig! Also hat die deutsche Regierung ihre  Ausbildungsverpflichtung in europäische Verantwortung übergeben, an die neue Mission EUPOL-Afghanistan, auf mehr Freiwillige Ausbilder hoffend.   Über „zu wenig“ wird auch bei der Entlohnung geklagt. 70 Dollar Lohn  (für jeden der  62.000 Polizisten im ganzen Land)  monatlich für einen riskanten Job: Selbstmordattentäter hatten am 17. Juni 2007  eine Bombe in einen Polizeibus geworfen – 35 Opfer. Im selben Monat  hatten US-Soldaten bei einem ihrer Anti-Terror-Einsätze in Nangarhar versehentlich sieben afghanische Polizisten  erschossen. Riskant und wenig bezahlt. „Die Taliban bieten mir 250 Dollar  monatlich, ich habe eine große Familie, allein  ein Sack Reis kostet mich 60 Dollar. Das zwingt mich meinen Polizisten-Lohn  irgendwie  aufzubessern,“ erklärt uns ein  Verkehrspolizist  aus der Provinzhauptstadt Charikar.

Noch lange bevor wir Charikar erreicht hatten, kamen wir durch grauenvoll zerstörte Dörfer.  Den Menschen blieb nur die Flucht:  Sechs Millionen nach Pakistan;  zwei Millionen in den Iran.  Wem die Flucht nicht gelungen war,  wurde Opfer der machthungrigen Stammesführer,  die sich von den gegenüberliegenden Gipfeln – nachdem die Russen besiegt waren -  bombardierten und dabei die gesamte dichtbesiedelte Kabuler Hochebene in Schutt und Asche legten. Afghanen gegen Afghanen. Einer von ihnen war der „Löwe des Pandschir-Tals“, General Massoud.  Sein Beiname resultiert aus der erbitterten Verteidigung seines schönen Pandschir-Tals gegen russische Eindringlinge und später auch gegen die paschtunischen Taliban.

Welch ein Zauber über diesem fruchtbaren Tal! Verständlich, dass es einst zum „Hippie-trail“ gehörte. Hierher kamen Jugendliche aus dem Westen wegen der grandiosen Natur, wegen des wilden Lebensstils und wegen des besten Haschischs der Welt. Sie wurden zu Kolonialisten  - auch zu Geldbringern, aber zu würdelosen.  Erst die Invasion der Sowjetunion 1979 beendete diese Art des touristischen Treibens. Doch  Afghanistans wichtigste Einnahmequelle versiegte. Einsam donnert heute der unbändige Pandschir-Fluss durch die hochaufragenden Felswände. Märtyrergräber,  mit grünen Fahnen geschmückt, säumen unseren Weg.

An den unwahrscheinlichsten Stellen, sogar mitten im klaren Wasser des Flusses,  liegen ausgebrannte Panzer. Manch  ausgebombtes  Militärfahrzeug dient jetzt als Kiosk. Ein einzelner Bauer geht vor einem Pflug her. Mitten auf seinem Acker liegt ein verrosteter Panzer. Er bewegt sich vorsichtig um das Wrack herum. Am Straßenrand laufen Kinder mit Brennholz und Frauen mit Wassereimern. Sie meiden die Gräben, in denen noch Minen liegen könnten. Im und am  Fluss gehen  die modernen afghanischen Familienväter ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: Sie waschen sorglos ihr Auto. Wieder spüre ich  diesen Hauch der Normalität.  

Unser Mitfahrer, der Pandschabi Mr. Saband, ist in diesem Tal zu Hause. Bevor er uns in sein Haus einlädt, führt er uns feierlich  auf eine Anhöhe zum Grabmal von General Massoud, dem Held der Tadschiken.  Er zeigt es uns wie ein Heiligtum: „Fremde Eroberer haben gegen uns  keine Chance. Wir haben sie bisher  alle besiegt.“ Dieser Satz verfolgt mich lange. 55 verschiedene und stolze Ethnien beherrschen Afghanistan.  Wo ist der Faden, der aus diesem Macht- Labyrinth herausführt? Wer kann der jetzigen Regierung das Gewaltmonopol sichern? Fremde Truppen etwa?  

Das Haus seiner Familie liegt hoch am Hang und verbreitet  Ferienstimmung. Nach der steinigen Kletterpartie sind wir froh, auf den bunten Kissen des Salons ausruhen zu dürfen. Frische Bergluft weht durch die weißen Spitzengardinen.  „Alles war bis auf die Grundmauern zerstört“, berichtet der Hausherr. Die Großfamilie ist versammelt: Brüder, Neffen -  sogar die Hausfrau – unverschleiert - erscheint:  „Bis vor einem Jahr  war unsere gesamte Familie mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Das war auch gut so, denn das lenkte uns ein wenig von unserem Kummer ab: Unsere beiden Söhne sind für General Massoud gestorben“. Beim Namen Massoud liegt ein gewisser Stolz in ihrer Stimme.  Aufrecht steht sie mitten im Raum und beginnt über die ungerechten, radikalen Taliban-Jahre zu klagen.  Dann  breitet sie eine Plastikfolie  über den Perser, schleppt Tabletts mit Reis, Fleisch, Gemüse, Salat, Brot und sogar Coca Cola herbei.  Aus einer Ecke  dudelt  ein Fernseher ein indisches Musik- und Tanzprogramm -  das gehört  wohl zum modernen afghanischen Leben.

Unsere Gastgeber werden gleich bei einer Hochzeit erwartet. Wir könnten gern mitkommen. Da wir vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Kabul sein wollen, müssen wir das gastfreundliche Angebot ablehnen. Dann verabschieden wir uns, lassen  sie  mit ihrer Erinnerung an  Zeiten von Invasionen und Einmischungen allein.

Hoffnung liegt gleich am Kabuler Stadtrand, den wir abends von Norden her erreichen. Neuerrichtete  glitzernde „Hochzeits-Paläste“ bieten – Frauen und Männer in getrennten Sälen -  Platz fürs Feiern.  Ebenso wurden Trauerhäuser errichtet, wo Trauernde – Frauen und Männer getrennt – Kondolenzgäste bewirten können,  wenn ihr eigener Wohnraum zu klein ist.

Zu klein ist es fast überall im Nachkriegs-Kabul. Die Rückkehrer aus den Flüchtlingslagern in Pakistan und Iran finden kaum eine Unterkunft.  Aus Not wurden rostige Container in Wohnungen oder Läden umfunktioniert. Aus ihnen werden Trauben, Melonen, Kartoffeln,  Zwiebeln, kleine Bananen, Walnüsse oder blutende Schlachter-Ware feilgeboten.

Kabul ist also kein perspektivloser Flecken. Nicht nur Zerstörung und Leid  bestimmen seine Architektur: Da erstreckt sich zum Beispiel gleich neben dem „Landmark“-Hotel  ein glanzvolles Einkaufszentrum aus Marmor, Glas und eleganten Treppen. Angeboten werden elektronische Geräte und regionale Mode.
Wieder umweht mich ein Hauch von Normalität.

Unsere eigene bescheidene Herberge steht an einer der belebten Verkehrsadern  Kabuls.  Morgens um Sieben erreiche ich - nach lebensbedrohlicher Querung - die Backstube gegenüber. Ampeln oder Zebrastreifen? Gibt es noch nicht. Durch den Schleier der Abgase steigt mir der Duft des  frischen Brotes  in die Nase. Acht Bäcker hocken teigknetend Tag und Nacht wie Zarathustras Söhne über einem Feuerloch. Ich blicke in den heißen Abgrund und sehe Brotfladen. Auf einer Stein-Empore in dieser niedrigen Hütte scheinen  sich die Bäcker abwechselnd  auszuruhen.  Ihre Hemden sind  fadenscheinig, Ihr Lachen ist überzeugend.

Hat diese Szene auch etwas Pittoreskes,  täuscht sie doch nicht darüber hinweg, dass es zurück zur „Schweiz Asiens“, wie das Land vor 80 Jahren von König Aman Ullah  genannt wurde, noch ein langer, heißer Weg sein könnte.